Das Höllenschiff: Historischer Kriminalroman
fragen Sie Louis mal, wie er entwischt ist.«
»Wie sind Sie denn vom Schiff gekommen?«, fragte Lasseur.
Beaudouin grinste. »In einem schicken blauen Häubchen.«
Hawkwood und Lasseur hörten mit Erstaunen, dass die Brunswick für die Bewohner von Chatham eine regelrechte Attraktion geworden war. Für ein paar Münzen und mit dem Einverständnis des Captains ruderten ansässige Fischer die Einheimischen regelmäßig zum Hulk hinüber. Dort wurden sie auf das Quarterdeck geführt, um von dort aus die Gefangenen anzugaffen. Noch erstaunlicher war es, dass viele dieser Besucher Frauen waren, und das hatte Beaudouin auf seine Idee gebracht.
Im verzweifelten Bemühen, die Zeit auf dem Schiff totzuschlagen, waren die Gefangenen auf die Idee gekommen, eine Theatergruppe zu gründen, mit der sie für ihre Mitgefangenen kleine Stücke aufführten, die sie selbst geschrieben hatten. Der Höhepunkt ihrer Darbietung sollte ein romantisches Melodram sein, in dem es um einen Piraten und seine Braut ging.
»Ich spielte die Braut«, erzählte Beaudouin lachend, »weil ich ein so zartes Gesichtchen habe. Natürlich hatte ich damals keinen Schnurrbart«, fügte er ernst hinzu.
Die Theatergruppe hatte ihre Kostüme selbst gemacht. Das Anfertigen der Kostüme für die Frauenrollen jedoch hatte erhebliche Schwierigkeiten aufgeworfen, also hatte man an die weiblichen Bewohner von Chatham appelliert. Die Spenden waren sackweise gekommen. So kam Beaudouin zu seiner Verkleidung, es fehlte nur noch die passende Gelegenheit.
Er wählte den Moment an einem der Besuchertage. Beaudouin hatte sich in der Nähe einer der Luken zum Quarterdeck versteckt, wo er sich unter die Besucher mischte, die gerade das Schiff verlassen wollten. Er raschelte mit seinen Petticoats und hielt sich zierlich ein Taschentuch vor das Gesicht, als sei er ganz überwältigt von dem Geruch und all dem Schrecklichen, das er soeben gesehen hatte. Der schlimmste Moment kam, als er sich der Annäherungsversuche eines Milizionärs erwehren musste, der Beaudouins Bemühen, sein Gesicht zu verstecken, für kokettes Flirten hielt.
»Es hätte mir ja nicht so viel ausgemacht«, sagte Beaudouin lachend, »aber der Kerl war potthässlich.« Er wandte sich an Leberte, einen elegant aussehenden Mann mit gepflegtem Backenbart und einem so dramatischen Schnurrbart, dass Beaudouins Bemühungen dagegen schwach aussahen.
»Pierre, warum erzählst du uns nicht, wie du es geschafft hast?«
Die anderen grinsten.
Lebertes Flucht von der Buckingham war aus mehreren Gründen spektakulär gewesen. Sie war ihm gelungen, weil er die Kontrollgänge der Milizionäre auf der Gangway draußen genau beobachtet hatte. Er hatte die Zeit gestoppt, die ein Wachsoldat brauchte, um die gesamte Länge des Eisenstegs zurückzugehen, wobei er nicht sehen konnte, was hinter ihm geschah. Als Nächstes hatte er »aus Versehen« ein Kohlblatt über Bord fallen lassen, um zu sehen, wie lange es brauchte, um im Wasser zu landen. Dann wartete er auf den höchsten Stand der Flut, und als die Wache den Rückweg auf dem Steg angetreten hatte, machte er den Hechtsprung in die Freiheit. Es war am Spätnachmittag, und Lebertes Sprung über Bord war für alle völlig überraschend gekommen, auch für seine Kameraden. Bis die Milizionäre sich von ihrem Schrecken erholt und beschlossen hatten, was zu tun sei, war Leberte unter dem Schiffsrumpf schon zum Bug geschwommen, wo er mit Hilfe eines Schnorchels unter Wasser blieb. Den Schnorchel hatte er aus dem Röhrenknochen eines Hammels gemacht, den er sich von einem der Köche hatte geben lassen unter dem Vorwand, er wolle sich eine Flöte schnitzen. Er blieb verborgen, bis die Suche nach seiner Leiche flussabwärts in einiger Entfernung vom Schiff fortgesetzt wurde. Als es dunkel wurde, schwamm er an Land und versteckte sich.
»Nun erzähl ihnen auch noch, was das Beste daran war«, grinste Beaudouin.
Es war weder das kalte Wasser gewesen, noch die Tatsache, dass er durch ein enges Röhrchen atmen musste, was Lebertes Entschlusskraft bis zum Äußersten gefordert hatte, sondern die schreckliche Gewissheit, dass sich sein Versteck genau unter der Schiffslatrine befand.
Lasseur hob beschwörend die Hände hoch und sagte schnell: »Danke, danke, mein Freund. Bitte ersparen Sie uns die Einzelheiten.«
Leberte war Leutnant des 93. Régiment d’Infanterie de Ligne und der einzige weitere Seemann unter den Anwesenden. Im Gegensatz zu den Briten hatten die Franzosen
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