Das Höllenschiff: Historischer Kriminalroman
bekamen einen Bericht von Ludd, in dem er uns mitteilte, dass Officer Hawkwood und Lasseur, der Privateer, vom Schiff geflohen sind.« Read unterbrach sich, dann sagte er: »Ludd schrieb, dass die beiden ein ziemliches Chaos hinterlassen hatten.«
Jago wollte gerade sagen: Auch da hat sich also nichts geändert , doch als er das Gesicht des Obersten Richters sah, schwieg er lieber.
»Was für ein Chaos?«, fragte er schließlich vorsichtig.
»Fünf Tote, darunter ein Kind.«
Jago sah Read entsetzt an. »Was?«
»Soweit ich hörte, war das Kind – ein kleiner Junge – in großer Gefahr. Hawkwood und Lasseur wollten ihm helfen und mussten sich dabei gegen schwere tätliche Übergriffe zur Wehr setzen. Zumindest war das die Erklärung, die man dem Commander des Schiffs gab. Captain Ludd untersucht noch immer die Hintergründe. Wie es aussieht, hat der Commander, ein Leutnant Hellard, die Sache auf eine Art und Weise gehandhabt, die über die disziplinarischen Grenzen der Royal Navy hinausgeht, zumindest was die Behandlung Kriegsgefangener angeht. Er wird sich vor einem Untersuchungsausschuss verantworten müssen und wird wohl kaum ungeschoren davonkommen. Wenn er gedacht hatte, dass man nicht mehr tiefer sinken kann, als ein Gefängnisschiff zu befehligen, dann wird er wohl noch einiges dazulernen.«
Jago, noch immer ziemlich schockiert, sah nachdenklich aus. »Und das war’s? Ist das alles, was Sie wissen?«
»Vielleicht gibt es noch etwas.«
»Was wäre das?«
»Ludd berichtete auch, dass es am Abend nach der Flucht einen Zwischenfall an der Küste gegenüber gegeben hat. Ein Ort namens Warden. Ein Trupp von Zöllnern, mit Unterstützung einiger Dragoner, überraschte eine Schmugglerbande, die gerade eine Warenladung an Land brachte. In dem Durcheinander wurden einige Männer verwundet. Einer der Zöllner beobachtete die Sache mit dem Fernrohr. Er war sich nicht ganz sicher, aber er meinte gesehen zu haben, dass zwei Männer dabei waren, die sich abseits hielten und mit dem Tragen der Schmuggelware nichts zu tun hatten, und als die Schießerei begann, versuchten sie auch nicht, sich an Land zu verstecken, sondern versuchten so schnell wie möglich ins Boot zu gelangen, ehe es verschwand. Er sagte auch, die beiden seien im Gegensatz zu den Schmugglern nicht bewaffnet gewesen. Er fand das … etwas außergewöhnlich.«
»Und Sie denken, das waren der Captain und der Franzose?«, Jago machte ein zweifelndes Gesicht. »Wurden von den Schmugglern welche gefangen oder verhört?«
»Leider hatten die Schmuggler die Oberhand. Sie hatten Unterstützung in der Nähe; und schließlich mussten die Zöllner den Rückzug antreten.« Read spitzte die Lippen.
»Ich weiß, dass das nicht allzu viel hergibt, Sergeant. Vielleicht hilft es auch gar nichts, aber es ist leider alles, was wir an Hinweisen haben.«
Interessant, dass er mich noch immer Sergeant nennt , dachte Jago. Er vermutete, dass es das Höchste war, wozu Read sich als Anrede durchringen konnte. Er zweifelte daran, dass der Oberste Richter ihn jemals mit »Mister« anreden würde. Mister würde bedeuten, dass man respektiert wird, und obwohl James Read gewillt war, die weniger ehrenwerten Seiten seiner geschäftlichen Tätigkeiten zu übersehen nach dem Motto »Eine Hand wäscht die andere«, so war der Richter doch noch nicht bereit, Nathaniel Jago als ein vollwertiges Mitglied der respektablen Gesellschaft anzusehen.
»Wenn Sie mich fragen«, sagte Jago düster, »dann klingt das Ganze nach einem verflucht dicken Schlamassel.«
Read nickte mit zusammengekniffenem Mund. »Nach allem, was ich bisher gehört habe, neige ich zu derselben Ansicht. Das Ganze ist eine sehr heikle, verzwickte Geschichte, besonders wenn man das Schicksal der beiden Marineleutnants mit bedenkt, von denen ich Ihnen erzählte: einer ist tot, der andere vermisst.«
»Und was genau erwarten Sie jetzt von mir?«, fragte Jago skeptisch.
Read legte die Fingerspitzen seiner schlanken Hände aneinander. »Ich weiß, dass Sie diese Gegend gut kennen. Außerdem haben Sie doch Möglichkeiten, die uns als Behörde nicht zur Verfügung stehen. Ich hoffe, Sie können Ihre Kontakte nutzen, um herauszufinden, wo Officer Hawkwood sich befindet, und vielleicht sogar auf seiner Spur zu bleiben.«
Jago zog die Augenbrauen hoch. »Da verlangen Sie ja gar nicht viel, was? Haben Sie daran gedacht, dass er, wenn er tatsächlich in diesem Boot mitgefahren ist, jetzt vielleicht schon in Frankreich ist?
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