Das Höllenschiff: Historischer Kriminalroman
habe keine Eltern mehr. Es sind die Eltern meiner Frau. Sie ist tot.«
Hawkwood erwiderte nichts.
»Sie ist vom Pferd gestürzt. Sie war eine begeisterte Reiterin, besonders gern ritt sie ganz früh am Morgen.« Der Franzose schluckte und zum zweiten Mal sah man sein wahres Gesicht. »Ich habe meinen Sohn drei Monate nicht mehr gesehen, aber sie schreiben mir. Dass er zur Schule geht und gut lernt, und dass er sehr tierlieb ist.« Über sein Gesicht huschte ein Lächeln. »Er heißt François.« Lasseur sah ihn an. »Haben Sie Familie?«
»Nein«, sagte Hawkwood.
»Eine Freundin? Jemand, der auf Sie wartet?«
Hawkwood dachte an Maddie Teague und überlegte, ob sie sich wohl jemals in dieser Rolle gesehen hatte: die einsame Frau, die voller Sehnsucht auf ihn wartete. Irgendwie konnte er sich das schlecht vorstellen. Dazu war Maddie viel zu unabhängig. Plötzlich sah er sie neben sich liegen, ihre kastanienbraune Haarpracht auf dem Kopfkissen, die blitzenden smaragdgrünen Augen, das schelmische Lächeln um ihren Mund.
»Aha!«, sagte Lasseur verständnisvoll. »Ihr Gesicht gibt mir die Antwort. Ist sie hübsch?«
»Ja«, sagte Hawkwood. »Ja, das ist sie.«
Lasseur sah plötzlich ernst aus. »Dann würde ich sagen, wir haben beide einen Grund, hier abzuhauen, nicht wahr?«
»Solange es nicht in einem verdammten Wasserfass sein muss.«
»Es wird auch andere Wege geben«, sagte Lasseur mit Bestimmtheit. »Wir müssen sie nur finden. Fouchet sagte, einige hätten es geschafft. Vielleicht sollten wir ihn fragen, wie sie das gemacht haben.«
»Vielleicht sollten wir jemanden fragen, der weniger Skrupel hat«, sagte Hawkwood.
Lasseur grinste. »Sie meinen Leutnant Murat?«
»Genau den«, sagte Hawkwood.
Der Dolmetscher runzelte die Stirn. »Entschuldigen Sie, Captain Hooper, aber wie Sie sich vielleicht erinnern, war ich bei Ihrer Registrierung dabei. Ich hörte, Sie warten darauf, dass Ihr Hafturlaub genehmigt wird. Warum sollten Sie sich noch immer mit Fluchtgedanken tragen?«
»Der Captain will eben alle Optionen ausloten.« Lasseur verzog keine Miene. »Dagegen gibt es doch nichts einzuwenden, oder?«
Die Stirn des Dolmetschers blieb gefurcht. »Natürlich nicht, aber Sie sind doch erst einen Tag hier.«
»Na und?«, sagte Hawkwood. »Was zum Teufel hat das damit zu tun?«
»Vielleicht sollten Sie etwas mehr Geduld haben.«
»Geduld?«, sagte Lasseur. »Ich bin geduldig gewesen.«
Nur mit Mühe unterdrückte Hawkwood das Verlangen, dem Dolmetscher das überlegene Lächeln vom Gesicht zu wischen. »Aber meine Geduld geht langsam zu Ende.«
»Hingegen haben Sie sich ja tatsächlich Zeit gelassen, Leutnant«, sagte Lasseur kühl. »Wie lange sind Sie schon hier? Sind es nicht zwei Jahre?« Der Privateer sah ihn mit Verachtung an. »Vielleicht war das keine so gute Idee.«
Hawkwood sah Murat an und wiegte den Kopf. »Wir dachten, Sie seien der richtige Mann, den man um Rat fragen könne. Sieht aus, als ob wir da falschlagen.« Er sah Lasseur kurz an und zuckte die Schultern. »Schade.«
»Wollen Sie wissen, was ich denke?«, murmelte Lasseur. »Ich glaube, der Leutnant ist etwas gleichgültig geworden, er hat es ein bisschen zu bequem hier. Wahrscheinlich hat er noch nie daran gedacht, zu fliehen. Es geht ihm doch hier viel zu gut.« Lasseur sah den Dolmetscher herausfordernd an. »So ist es doch, oder? Ich würde sogar wetten, dass Sie hier durch Ihre Dolmetscherdienste und Ihre Tauschgeschäfte eine ganze Menge mehr verdienen als damals als Navyoffizier. Sie haben sich hier ein hübsches, kleines Geschäft aufgebaut, nicht wahr? Sie wollen gar nicht weg. Habe ich Recht?«
Die Wange des Dolmetschers zuckte nervös. »Ich sagte ja nur, dass solche Sachen lange dauern können – Wochen, manchmal sogar Monate.«
»Und was ist, wenn wir nicht so lange warten wollen?«, sagte Hawkwood.
»Wir konnten nicht anders, als die Wasserlieferung vorhin zu beobachten«, sagte Lasseur. »Wir dachten, das könnte eine Möglichkeit sein.«
Nach einer Pause schüttelte der Dolmetscher kurz den Kopf. »Die Wasserfässer können Sie vergessen. Das hat mal funktioniert, aber jetzt nicht mehr. Die werden jetzt als Erstes kontrolliert.«
»Tatsächlich?«, sagte Lasseur. Er sah Hawkwood an. »Das wär’s also, was diese Idee anbelangt.«
»Ich sagte ja, es wäre zu verdammt einfach gewesen«, sagte Hawkwood. »Okay, und was ist mit den anderen Liefertransporten?«
Lasseur hatte seine Rolle wunderbar gespielt.
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