Das Höllenschiff: Historischer Kriminalroman
genug kommen. Der Platz an der Geschützöffnung gewährte zwar frische Luft und den Blick aufs Wasser, aber das milderte den Geruch nicht im Geringsten ab. Der ekelerregende Gestank hing schon so viele Jahre in diesem Schiff, dass er in das Holz eingedrungen war wie Maden in einen verfaulenden Leichnam.
Das Frühstück hatte aus einem Becher Wasser und einem Stück trockenen Brot bestanden, das vom gestrigen Abendessen übrig war. Der faustgroße Kanten alten Brotes war durch Eintauchen in das Wasser etwas genießbarer geworden. Doch es war ein schwacher Trost für eine höchst unruhige Nacht, auch wenn Hawkwood den Trick, sich in die Hängematte zu schwingen, noch nicht verlernt hatte. Obwohl ein Soldat es gewohnt war, sich hinzulegen, wann und wo er konnte, bedeutete das noch lange nicht, dass es immer leicht war, einzuschlafen. Die Nacht war ihm endlos vorgekommen. Lasseur, der über das kabbelige braune Wasser blickte, sah ebenso unausgeschlafen aus. Auf Steuerbord lag im äußersten Nordwesten der Isle of Sheppey die Werft von Sheerness; eine lose aneinandergereihte Ansammlung von Lagerhäusern, Baracken und Werkstätten. Darüber erhob sich die Festung; über ihrem wuchtigen, viereckigen Grundriss erhob sich ein grau gedeckter Turm, von dem die königliche Standarte flatterte. Die Festung wachte über den Eingang zur Medway und dominierte die gesamte Umgebung, eine steinerne Warnung für alle, die töricht genug waren, anzugreifen.
Südlich davon, am Rande der Werft, lag die Blue Town . Die Siedlung war die Unterkunft für die Werftarbeiter und hatte ihren Namen von der Farbe ihrer Gebäude, die allesamt mit demselben Blau gestrichen waren, das die Navy benutzte. Die kleinen Häuschen waren fast ausschließlich aus Holzresten gebaut, die bei den Arbeiten auf der Werft abfielen. Sie waren nichts weiter als primitive Hütten, die sich in einem Gewirr enger Gassen aneinanderdrängten. Dennoch waren sie einige Klassen besser als die früheren Unterkünfte am Fluss. Denn ursprünglich hatten die Werftarbeiter in stillgelegten Schiffen gehaust, ähnlich der Rapacious , die man im Fluss liegen ließ, um die Strömung zu verlangsamen und damit zu verhindern, dass zu viel Kies vom Vorland weggeschwemmt wurde. Zwei von ihnen waren noch da, hilflos lagen sie im Schlamm wie angetriebene Wale nach einem Sturm.
Auf der anderen Seite des Flusses, eine Meile nach Backbord, war die Isle of Grain, ein dunkelgrüner Fleck im fahlen Morgenlicht, während hinter der Heckreling, weniger als zwei Meilen südlich, die westliche Mündung des Swale-Kanals lag, der Sheppey vom Festland trennte.
Das Wetter war sehr viel besser geworden. Doch obwohl die Sonne schien, wehte eine steife Brise, die nicht nur den Geruch des Meeres, sondern auch den widerlichen Fäulnisgeruch der Marsch herübertrug, die sich zu beiden Seiten der Flussmündung erstreckte.
Ein Warnruf kam vom Quarterdeck, wo Leutnant Thynne die Anlieferung der Verpflegung überwachte, von einer kleinen Flotte von Versorgungsbooten angeliefert, die neben dem Schiff festgemacht hatten. Fässer mit Frischwasser wurden an Bord gehievt und ersetzten die leeren, die aus den Ladeluken gehoben wurden. Eines der Fässer war aus der Schlaufe gerutscht. Es war die zweite Lieferung an diesem Tage. Die Brotration war vor weniger als einer Stunde angekommen und bereits zur Küche gebracht worden.
Interessiert sah Lasseur dem Vorgang zu. »Was glauben Sie?«, sagte er.
Hawkwood folgte seinem Blick dorthin, wo das abgerutschte Fass gerade wieder aufgefischt wurde. »Es wäre eng.«
Lasseur grinste.
Hawkwood machte ein skeptisches Gesicht. »Woher wollen Sie wissen, dass die Fässer an Land nicht kontrolliert werden?«
»Und woher wollen Sie wissen, dass man das tut?«
»Weil ich es täte«, sagte Hawkwood. »Es wäre das Erste, was ich mir ansehen würde.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, murmelte Lasseur. »Aber immerhin wär’s einen Versuch wert.« Er griff in seine Jacke, zog eine Zigarre heraus und sah sie sehnsüchtig an.
»Die würde ich mir einteilen«, sagte Hawkwood. »Ich habe gehört, Tabak ist hier schwer zu kriegen. Und teuer.«
Lasseur steckte die unangezündete Zigarre zwischen seine Lippen und schloss die Augen. So blieb er ein paar Sekunden stehen, worauf er sie wieder einsteckte und seufzte. »Je eher ich von diesem verdammten Schiff runterkomme, desto besser.«
Es war eine gute Entscheidung gewesen, sich Lasseur anzuschließen. Seit dem Augenblick, wo
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