Das irische Erbe
gesagt hatte. Es gebe auf der Inishere anonyme Gräber. Im Archiv der Zeitung fand sie dazu einen Artikel. Es stimmte. Bis zum Ende der Siebzigerjahre waren auf dem Kirchhof der alten Kirche Menschen anonym beerdigt worden. Leute, die auch im Tod unerkannt bleiben wollten, Menschen, die niemand identifizieren konnte oder Personen, die dort beigesetzt werden wollten und deshalb keine Angaben zu ihrer Person gemacht hatten. Die Anonymität wurde damals gewahrt und es wurden keine Versuche unternommen, die Herkunft der Menschen herauszufinden. Die Bürokratie war schlicht außer Kraft gesetzt worden.
Sie ging alle Gräber ab, fand aber nicht, was sie suchte. Unschlüssig blieb sie stehen und erschrak, als der Geistliche plötzlich neben ihr stand. Er sprach nur Irisch und sie musste sich konzentrieren. Er wollte wissen, was sie suchte, und sie fragte ihn nach dem Grab einer Frau, einer Deutschen, die gemalt habe. Er nickte und bedeutete ihr, zu folgen. Er ging zur anderen Seite der Kirche und öffnete ein morsches Gatter. Die Einfassung des Friedhofs hörte jenseits des Gatters auf, die äußere Mauer war irgendwann einmal abgetragen worden, sodass sich noch einige Gräber außerhalb des Friedhofs befanden, die von außen aber durch dichte Büsche verdeckt waren.
Der Geistliche sagte etwas, was sie nicht verstand, und deutete auf eines der Gräber. Die Gräber waren anders ausgerichtet als diejenigen auf dem Friedhof. Sie trat näher. Der Priester murmelte etwas, bekreuzigte sich und ging dann schlurfend fort. Auf dem schlichten, verwitterten Holzkreuz standen nur ihre Initialen › MC ‹ und das Jahr 1972 als Sterbedatum. Mehr nicht. Das musste Maureens Grab sein. Sie drehte sich um. Von hier aus konnte sie direkt hinunter auf das Dorf sehen und auf die dahinter liegenden Weiden.
Sie hätte gerne einen Strauß Blumen auf das Grab gelegt und ärgerte sich, nicht daran gedacht zu haben.
Sie war überhaupt in letzter Zeit ziemlich unkonzentriert gewesen, sonst hätte sie schon früher die Blumenbilder im Keller mit Maureens Malversuchen in Verbindung gebracht. Oder ihr hätte einfallen können, dass die Blumenbilder in dem Café in Inveran denen aus dem Keller sehr ähnelten. Dass es sich um das richtige Café handelte, wusste sie sofort, als sie die Wirtin sah. Feuerrotes Haar und wunderschöne blaue Augen. Das waren Maureens Worte gewesen.
Maureen war also die ganze Zeit in Inveran gewesen und hatte dort gewohnt und gearbeitet. Irgendwann ging sie auf die Insel, wo sie starb und beerdigt wurde.
Auf dem Rückweg zur Fähre kam die Sonne hervor und Claire blickte auf grüne Wiesen und dachte an die unzähligen Wildblumen. Über vierhundert verschiedene Sorten sollten dort gedeihen. Sie drehte sich noch einmal um. Im Sommer, wenn alles blühte, musste der Anblick vom Friedhof aus überwältigend sein. Maureen hätte es sicher genossen.
Abends gab Claire zum ersten Mal einem der Kinder Unterricht. Sie nahm Tiger, das Pony mit den schwarzen Punkten, an die Longe und ließ das Tier gemächlich im Kreis gehen. Tiger war ein typisches Connemara-Pony. Nicht allzu klein mit kräftigen Gliedmaßen und langen Haaren in der Fesselbeuge. Es liebte Kinder und ging sanft mit ihnen um. Teufel dagegen schnappte gerne, am liebsten, wenn man ihm den Rücken zukehrte. Gypsi war schon älter, mit rötlichem Fell und langen Stirnhaaren, die fast bis zu den Nüstern reichten. Das vierte Pony war sehr zierlich und wirkte immer ein wenig, als sei es halb verhungert. Aber Fee war sehr zäh und futterneidisch. Ihr Fell erinnerte an Café au Lait und war seidenweich.
Sie war überrascht gewesen, als das kleine Mädchen von ihr longiert werden wollte, und nicht von Tim oder Nina. Zögernd hatte sie eingewilligt und wusste anfangs nicht so recht, was sie tun sollte. Aber dann erklärte sie dem Mädchen den richtigen Sitz und die Haltung der Hände und es klappte.
Der Heilige Abend fing mit Stress an. Claire stand ganz früh auf und wollte in Ruhe ihre Geschenke einpacken. Aber als sie in der Küche nach einer Schere suchte, fielen ihr die unsauberen Besteckkästen in einer der Schubladen auf. Sie zögerte einen Moment und räumte das Besteck dann kurz entschlossen aus und wischte die Kästen sauber. Die zweite Schublade war auch verschmutzt, sie fand sogar Bonbonpapiere zwischen dem Schaumlöffel und dem Dosenöffner. Und Korken. Und einige Nägel. Und Kugelschreiber, die mit Sicherheit nicht mehr funktionierten. So war es auch.
Sie
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