Das italienische Maedchen
körperliche Kraft und Attraktivität verlieren werden, ohne zu erkennen, was sie dazugewinnen.
Wie sollen sie auch ahnen, dass ihre Seelen wachsen, ihr Ungestüm einmal gezügelt und ihr Egoismus durch die Erfahrungen der Jahre gezähmt werden?
Ich akzeptiere, dass das die Natur des Menschen ist, in ihrer ganzen fantastischen Komplexität, und habe aufgehört, sie zu hinterfragen.
Als Keva das zweite Mal an meiner Tür klopft, lasse ich sie herein. Während sie in schnellem Hindi auf mich einredet, trinke ich Tee und gehe im Geiste die Namen meiner vier Enkel und elf Urenkel durch. Im Alter von einhundert Jahren möchte man beweisen, dass der Kopf noch funktioniert.
Die vier Enkel, die meine Tochter mir geschenkt hat, sind inzwischen alle selbst gute, liebevolle Eltern. Sie haben es in der neuen Welt nach der Unabhängigkeit von Großbritannien zu etwas gebracht, und ihre Kinder sind sogar noch erfolgreicher. Mindestens sechs von ihnen haben sich, soweit ich mich erinnere, selbstständig gemacht oder arbeiten in attraktiven Berufen. Eigentlich hätte ich mir gewünscht, dass einer meiner Nachkommen sich für Medizin interessieren und in meine Fußstapfen treten würde, aber man kann nicht alles haben.
Als Keva mich zum Waschen ins Bad bringt, wird mir klar, dass meine Familie mit einer Mischung aus Glück, scharfem Verstand und Kontakten gesegnet ist. Und dass mein geliebtes Indien vermutlich noch ein Jahrhundert brauchen wird, bis bei den zahllosen auf den Straßen Hungernden wenigstens das Minimum der menschlichen Bedürfnisse befriedigt ist. Ich habe immer geholfen, wo ich konnte, weiß jedoch, dass das bei all der Armut und Not lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein war.
Während Keva mich in meinen neuen Sari – ein Geburtstagsgeschenk meiner Tochter Muna – kleidet, beschließe ich, heute nicht so trüben Gedanken nachzuhängen. Ich habe mich immer bemüht, anderen beizustehen, das muss genügen.
»Sie sind wunderschön, Madam.«
Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass sie lügt, doch für diese Lüge bin ich ihr dankbar. Meine Hand wandert zu der Perlenkette, die ich seit fast achtzig Jahren trage. In meinem Testament vermache ich sie meiner Tochter Muna.
»Ihre Tochter kommt um elf, und der Rest der Familie wird eine Stunde später hier sein. Wo wollen Sie auf sie warten?«
»Du kannst mich ans Fenster setzen«, antworte ich lächelnd. »Ich möchte meine Berge sehen.«
Sie hilft mir auf und führt mich zum Sessel.
»Kann ich Ihnen etwas bringen, Madam?«
»Nein. Geh in die Küche und vergewissere dich, dass die Köchin alles im Griff hat.«
»Ja, Madam.« Sie stellt meine Glocke vom Nachtkästchen auf das Tischchen neben mir und verlässt das Zimmer.
Ich drehe mein Gesicht ins Licht der Sonne, das durch das Panoramafenster meines Hauses auf dem Hügel hereinströmt, und denke an die Freunde, die bereits von uns gegangen sind und deshalb meiner Feier nicht beiwohnen werden. Indira, meine beste Freundin, ist vor über fünfzehn Jahren gestorben. Damals musste ich, wie nur selten im Leben, hemmungslos weinen. Nicht einmal die Gefühle meiner mir treu ergebenen Tochter lassen sich mit der Liebe und Zuneigung Indiras vergleichen, die trotz ihrer Ichbezogenheit und Flatterhaftigkeit für mich da war, als ich sie am nötigsten brauchte.
Ich blicke zum Sekretär in der Nische hinüber, in dessen verschlossener Schublade sich ein über dreihundert Seiten langer, an meinen geliebten Sohn gerichteter Brief befindet, die Geschichte meines Lebens. Irgendwann fürchtete ich, dass ich die Einzelheiten vergessen könnte, dass sie in meinem Gedächtnis verschwimmen und ausbleichen würden wie ein alter Schwarz-Weiß-Film. Wenn mein Sohn, wovon ich bis zum heutigen Tag fest überzeugt bin, am Leben ist und er jemals zu mir zurückkehren sollte, möchte ich in der Lage sein, ihm die Geschichte seiner Mutter und ihrer unauslöschlichen Liebe zu ihrem verlorenen Kind zu präsentieren. Und die Gründe, warum sie es zurücklassen musste …
Ich begann den Brief in der Mitte meines Lebens, weil ich seinerzeit damit rechnete, bald von dieser Erde genommen zu werden. Nun liegt er seit fast fünfzig Jahren in der Schublade, unberührt und ungelesen, weil ich meinen Sohn nie gefunden habe.
Nicht einmal meine Tochter kennt meine Geschichte vor ihrer Geburt. Manchmal habe ich Gewissensbisse, weil ich sie ihr nicht erzähle. Doch immerhin hat sie meine Liebe gespürt, die ihrem Bruder versagt geblieben ist.
Ich
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