Das italienische Maedchen
wäre, ein eleganter Stuhl zum Beispiel, würde man mich eine Antiquität nennen. Ich würde poliert, restauriert und meiner Schönheit wegen ausgestellt. Mein Körper jedoch hat sich im Verlauf meines Lebens nicht wie schönes Mahagoni glatt geschliffen, sondern ist eher zu einem schlaffen Sack voll Knochen verfallen.
Meine »Schönheit«, falls man sie so bezeichnen kann, verbirgt sich tief in meinem Innern, sie speist sich aus dem Wissen und den Gefühlen, die ich in einem Jahrhundert angesammelt habe.
Auf den Tag genau vor hundert Jahren befragten meine Eltern wie alle Inder bei der Geburt ihrer Kinder einen Astrologen, wie die Zukunft ihrer neugeborenen Tochter aussehen würde. Diese Vorhersagen befinden sich, glaube ich, nach wie vor unter den wenigen Besitztümern meiner Mutter, die ich aufgehoben habe. Darin heißt es, ich würde alt werden, was im Jahr 1900 mit dem Segen der Götter um die fünfzig bedeutet haben dürfte.
Ich höre leises Klopfen an der Tür. Das ist Keva, meine treue Dienerin, mit einem Tablett, auf dem English Breakfast Tea und ein Kännchen mit kalter Milch stehen. Ich trinke den Tee immer noch wie die Engländer, obwohl ich die vergangenen achtundsiebzig Jahre in Indien, genauer gesagt in Darjeeling, verbracht habe.
Weil ich an diesem besonderen Morgen gern noch eine Weile meinen Gedanken nachhängen möchte, reagiere ich nicht auf Kevas Klopfen. Bestimmt will sie mit mir den Tagesplan besprechen und mir beim Waschen und Anziehen helfen, bevor meine Familie eintrifft.
Während die Sonne die Wolken von den schneebedeckten Bergen verscheucht, suche ich am blauen Himmel nach der Antwort, um die ich jeden einzelnen Morgen der letzten achtundsiebzig Jahre zu den Göttern gebetet habe.
Heute bitte, denke ich, denn mir ist klar, dass mein Sohn noch irgendwo auf dieser Erde lebt. Wenn nicht, hätte ich das wie bei allen Menschen, die ich je geliebt habe, gewusst.
Mit Tränen in den Augen betrachte ich das einzige Foto, das ich von ihm besitze, von einem zwei Jahre alten lächelnden Engel auf meinem Schoß. Das Bild hat mir meine Freundin Indira mit der Sterbeurkunde gegeben, einige Wochen nachdem ich über den Tod meines Sohnes informiert worden war.
Vor einer Ewigkeit. Inzwischen ist mein Sohn ein alter Mann und wird im Oktober dieses Jahres seinen einundachtzigsten Geburtstag feiern. Selbst meine Fantasie reicht nicht aus, ihn mir als solchen vorzustellen.
Ich wende den Blick vom Foto meines Sohnes ab, weil ich heute die Feier genießen möchte, die meine Familie für mich vorbereitet hat. Doch bei solchen Gelegenheiten, wenn ich mein anderes Kind mit ihren Kindern und Kindeskindern sehe, empfinde ich die Abwesenheit ihres Bruders umso schmerzlicher.
Natürlich glauben sie, dass mein Sohn vor achtundsiebzig Jahren gestorben ist.
»Maaji, schau, du hast doch sogar seine Sterbeurkunde! Lass ihn in Frieden ruhen«, sagt meine Tochter Muna immer seufzend. »Freu dich lieber an der Familie, die du hast.«
Mittlerweile begreife ich Munas durchaus gerechtfertigte Frustration. Sie möchte, dass sie mir genügt, sie ganz allein. Aber ein verlorenes Kind lässt sich im Herzen einer Mutter nun einmal nicht ersetzen.
Heute werde ich meiner Tochter die Freude machen, von meinem Stuhl aus wohlwollend die Dynastie zu betrachten, deren Grundstein ich gelegt habe, ohne sie mit meinen Erzählungen über die Vergangenheit zu langweilen. Wenn sie mit ihren Kindern und deren batteriebetriebenen Spielzeugen in ihren schnellen westlichen Jeeps eintreffen, werde ich ihnen nicht schildern, wie Indira und ich die steilen Hügel rund um Darjeeling auf Pferderücken erklommen, dass Strom und fließendes Wasser seinerzeit Luxus waren oder dass ich jedes zerfledderte Buch las, das mir in die Finger kam. Geschichten von früher gehen jungen Leuten auf die Nerven; sie wollen ausschließlich in der Gegenwart leben, genau wie ich damals.
Ich kann mir vorstellen, dass die meisten in meiner Familie sich nicht gerade darüber freuen, meines einhundertsten Geburtstags wegen aus allen Teilen Indiens herfliegen zu müssen, aber vielleicht tue ich ihnen unrecht. In den vergangenen Jahren habe ich viel darüber nachgedacht, warum die Jungen sich in Gesellschaft der Alten unwohl fühlen; sie könnten so viel von uns lernen. Vermutlich stammt ihr Unbehagen daher, dass unsere schwachen Körper ihnen vor Augen führen, was die Zukunft für sie bereithält. In der Blüte ihres Lebens sehen sie, wie auch sie eines Tages ihre
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