Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
sie. Warum empfinden wir kurz vor unserem Abgang die Welt als so unsagbar herrlich? Geht es dem Kaninchen genauso, während der Fuchs die Zähne in seinen Nacken versenkt? Ist es ein Zeichen von Gnade?
    Sie bleibt stehen, dreht sich um und lächelt Ren an. Mache ich ihr Mut?, fragt sie sich. Ich bringe das nicht fertig. Ich bin nicht schnell genug. Ich bin zu alt, zu eingerostet, meine Reflexe sind zu langsam, ich bin nicht skrupellos genug. Vergib mir, Ren. Aber ich führe dich in dein Verhängnis. Ich bete, dass wir schnell sterben, falls ich danebenschieße. Diesmal sind keine Bienen hier, um uns zu retten.
    Welchen Heiligen soll ich anrufen? Wer hat die Entschlossenheit? Die Unerbittlichkeit? Das Urteilsvermögen? Die Präzision?
    Lieber Leopard, lieber Wolf, liebes Löwamm: Verleiht mir jetzt euren Geist.
     
    76.
Ren. Sankt
Terry
und Allerreisenden, Jahr Fünfundzwanzig
     
    Als wir die Stimmen hören, schleichen wir uns weiter. Erst die Ferse aufsetzen, sagt Toby, abrollen, dann die andere. So knackt das Geäst nicht unter den Füßen.
    Es sind Männerstimmen. Wir riechen den Rauch ihres Lagerfeuers und einen anderen Geruch: den Duft von gegrilltem Fleisch. Mir wird bewusst, wie hungrig ich bin. Ich merke, wie mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Ich versuche, an meinen Hunger zu denken und nicht an meine Angst.
    Wir spähen durch die Blätter. Sie sind es wirklich: Der mit dem längeren dunklen Bart und der mit dem helleren stoppeligen Bart und dem kahl geschorenen Kopf, bei dem die Haare nachwachsen. Ich erinnere mich noch ganz genau an sie, und mir wird schlecht. Hass und Angst packen meinen Bauch und ranken sich durch den ganzen Körper.
    Aber jetzt sehe ich Amanda, und ich fühle mich auf einmal ganz leicht. Als könnte ich fliegen.
    Ihre Hände sind frei, aber sie hat ein Seil um den Hals. Ein Seilende ist um das Bein des bärtigen Mannes gebunden. Sie hat immer noch ihre Wüsten-Khakikluft an, aber sie ist noch viel dreckiger. Ihr Gesicht ist verschmiert, die Haare sind matt und strähnig. Sie hat ein Veilchen unter dem Auge und lauter blaue Flecken, da wo ihre Arme nackt sind. Aber sie hat immer noch einen Rest orangefarbenen Nagellack aus dem Scales. Als ich das sehe, kommen mir fast die Tränen.
    Sie ist nur noch Haut und Knochen. Aber die beiden anderen sehen auch nicht gerade fett aus.
    Ich spüre, wie mein Atem schneller geht. Toby packt mich am Arm und drückt ihn. Das heißt: Bleib ruhig. Sie dreht mir ihr braunes Gesicht entgegen und lächelt wie ein Schrumpfkopf; die Zähne blitzen zwischen den Lippen hervor, die Kiefermuskeln sind angespannt, und mit einem Mal tun mir die beiden Männer leid. Dann lässt sie meinen Arm los und bringt mit einer sehr langsamen Bewegung das Gewehr in Anschlag.
    Die beiden Männer sitzen im Schneidersitz da, braten sich große Fleischstücke über der Glut. Wakunkfleisch. Auf der Erde liegt der schwarz-weiß gestreifte Schwanz. Auch ein Spraygewehr liegt auf der Erde. Toby muss es gesehen haben. Ich höre, wie sie denkt: Wenn ich einen erschieße, habe ich dann noch genug Zeit, den anderen zu erschießen, bevor er mich erschießt?
    *
    »Das ist irgend ’ne Primitivenscheiße«, sagt der Mann mit dem dunklen Bart. »Blaue Farbe.«
    »Nee, nee. Das war tätowiert«, sagt der Mann mit den kurzen Haaren.
    »Wer lässt sich denn den Pimmel tätowieren?«, sagt der Bärtige.
    »Wilde lassen sich alles tätowieren«, sagt der andere. »Das ist so ’n Kannibalending.«
    »Du hast zu viele beknackte Filme gesehen.« »Keine zwei Minuten, und die Alte wär ’n Menschenopfer, da wett ich mit dir«, sagt der Mann mit dem dunklen Bart. »Aber erst mal wird sie von allen durchgenommen.« Sie sehen zu Amanda rüber, aber sie starrt zu Boden. Der Bärtige zerrt an dem Seil. »Wir reden mit dir, Nutte«, sagt er. Amanda hebt den Kopf.
    »Sexspielsachen zum Essen«, sagt der Kurzhaarige, und die beiden lachen. »Haste die Bimplantate gesehen, bei den Weibern da?«
    »Das sind keine Bimplantate, die Dinger waren echt. Und wie findest du’s raus – aufschneiden. Die unechten haben so ’n Glibberzeug drin. Komm, wir gehen zurück und handeln ’n Tausch aus«, sagt der Mann mit dem dunklen Bart. »Mit den Wilden. Die kriegen die Alte, die wollten sie doch unbedingt haben, um ihre blauen Pimmel reinzustecken, und wir holen uns ein paar von ihren Weibern. Das wär’s doch!«
    Ich sehe Amanda mit ihren Augen: verbraucht, ausgelaugt. Wertlos.
    »Wieso tauschen?«, sagt der

Weitere Kostenlose Bücher