Das Jahr der Flut
aber als der Typ mit dem dunklen Bart sie loslässt, bewegt sie sich wie eine Schlange. Sie befreit sich aus der Schlinge und schlägt sie ihm wie eine Peitsche ins Gesicht. Dann tritt sie ihm in die Eier. Ich merke ihr an, dass sie zwar sehr geschwächt ist, aber dennoch ihre ganze Kraft zusammennimmt, und als sich der eine am Boden krümmt, verpasst sie dem anderen einen Tritt. Dann schnappt sie sich einen Stein und schlägt erst dem einen, dann dem anderen den Stein auf den Kopf; beide bluten. Sie lässt den Stein fallen und humpelt mir entgegen. Sie schluchzt wie verrückt, und ich weiß, dass es sehr sehr schlimm gewesen sein muss, die Tage ohne mich, denn es muss schon einiges passieren, um Amanda zum Weinen zu bringen.
»Ach, Amanda«, sage ich zu ihr. »Es tut mir so leid.«
Jimmy wankt hin und her. »Bist du echt?«, fragt er Toby. Er sieht total verwirrt aus. Er reibt sich die Augen.
»So echt wie du«, sagt Toby. »Du solltest die beiden fesseln«, sagt sie zu mir. »Aber ganz fest. Wenn sie wieder zu sich kommen, werden sie sehr wütend sein.«
Amanda trocknet sich das Gesicht mit dem Ärmel. Dann fangen wir an, die beiden zusammenzubinden, die Hände hinter dem Rücken, jedem eine Schlaufe um den Hals. Wir könnten etwas mehr Seil gebrauchen, aber fürs Erste reicht’s.
»Bist du das?«, fragt Jimmy. »Ich kenn dich doch irgendwoher.«
Ich gehe auf ihn zu, langsam und vorsichtig, denn er hat immer noch sein Gewehr in der Hand. »Jimmy«, sage ich. »Ich bin’s, Ren, erinnerst du dich nicht mehr? Das brauchst du jetzt nicht. Es ist alles gut.«
So redet man mit einem Kind.
Er lässt das Spraygewehr sinken, und ich nehme ihn in den Arm und drücke ihn ganz lange an mich. Er zittert, obwohl seine Haut glüht.
»Ren?«, fragt er. »Bist du tot?«
»Nein, Jimmy, ich bin am Leben, genau wie du.« Ich streiche ihm die Haare zurück.
»Wie ich aussehe«, sagt er. »Manchmal denke ich, alle sind tot.«
SANKT JULIANA UND ALLERSEELEN
Jahr Fünfundzwanzig
Von der Zerbrechlich
keit des Universums
Gesprochen von Adam Eins
Meine lieben Freunde, die wenigen, die verblieben sind:
Es bleibt uns nur noch wenig Zeit. Einen Teil davon haben wir genutzt, um hier hinaufzugelangen, an die Stätte unseres ehemals blühenden Dachgartens Felsen Eden, wo wir gemeinsam in hoffnungsvolleren Zeiten so glückliche Tage verlebt haben.
Lasst uns die Gelegenheit ergreifen, um ein allerletztes Mal über das Licht nachzudenken.
Denn der neue Mond geht auf und markiert den Beginn von Sankt Juliana und Allerseelen. Allerseelen beschränkt sich nicht nur auf die menschlichen Seelen: Für unsereins schließt dieser Tag die Seelen aller lebenden Geschöpfe mit ein, die das Leben durchlaufen und die große Verwandlung erfahren haben, um in jenen Zustand überzugehen, den man zuweilen Tod nennt, der aber richtiger eine Erneuerung des Lebens darstellt. Denn in dieser unserer Welt und im Auge Gottes geht nicht ein einziges Atom, das jemals existiert hat, verloren.
Lieber Diplodocus, lieber Pterosaurus, lieber Trilobit, liebes Mastodon, lieber Dodo, lieber Riesenalk, liebe Wandertaube, lieber Pandabär, lieber Schreikranich und all ihr ungezählten anderen, die ihr zu euren Lebzeiten in unserem gemeinsamen Garten gespielt habt: Steht uns in diesen schweren Zeiten bei und gebt uns Kraft und Entschlossenheit. Wie ihr haben wir die Luft genossen, das Sonnenlicht und den Mondschein auf dem Wasser; wie ihr haben wir den Ruf der Jahreszeiten vernommen und sind ihnen gefolgt. Wie ihr haben wir die Erde gefüllt. Und wie ihr sind wir nun gezwungen, das Ende unserer Spezies zu bezeugen und vom Antlitz der Erde zu weichen.
Wie immer an diesem Tag erinnern uns die Worte der heiligen Juliana von Norwich, jener barmherzigen Heiligen aus dem vierzehnten Jahrhundert, an die Zerbrechlichkeit des Kosmos − eine Zerbrechlichkeit, die von neuem durch die Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigt wurde, als die Wissenschaft jene immense Leere entdeckte, die nicht nur im Innern der Atome, sondern auch zwischen den Sternen liegt. Was ist unser Kosmos anderes als eine Schneeflocke? Was anderes als ein Stück Spitze? Oder wie es unsere geschätzte Juliana so trefflich und in so zärtlichen Worten zum Ausdruck brachte, in Worten, die noch heute durch die Jahrhunderte wehen:
Und dann zeigte er mir ein kleines Ding, so groß wie eine Haselnuss, das auf meiner Handfläche zu liegen schien. … Ich sah drauf nieder mit dem Auge des
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