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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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vor, wie die Kugeln durch die Luft fliegen und sie direkt ins − Auge treffen? Ins Herz? Ich zucke zusammen.
    »Das kann ich mir nicht leisten«, sagt sie. »Sie haben ein Spraygewehr.«
    Dann folgen wir wieder dem Waldweg und gehen weiter in Richtung Meer, in die Richtung, aus der ich letzte Nacht die Stimmen gehört habe.
    *
    Nach einer Weile hören wir dieselben Stimmen, aber sie singen nicht, sie reden nur. Es riecht nach Rauch − Lagerfeuer − und Kinderlachen. Es sind Glenns Menschen. Sie müssen es sein.
    »Langsam«, sagt Toby mit tiefer Stimme. »Verhaltensregeln wie bei Tieren. Immer ruhig bleiben. Wenn wir gehen müssen, dann rückwärts. Niemals umdrehen und weglaufen.«
    Ich weiß nicht, was ich erwarte, jedenfalls nicht das, was ich sehe. Vor mir ist eine Lichtung, und auf der Lichtung brennt ein Lagerfeuer, und um das Feuer herum sind insgesamt vielleicht dreißig Menschen. Jeder hat eine andere Hautfarbe − schwarz, braun, gelb und weiß −, aber keiner ist alt. Und keiner ist bekleidet.
    Ein Nudistencamp, denke ich. Aber den Witz mache ich nur für mich selbst. Sie sehen zu gut aus − viel zu perfekt. Sie sehen aus wie die Leute in den Anzeigen für das AnuYu-Spa. Mit Bimplantaten und Komplett-Wachsenthaarung. Hautverjüngt. Retuschiert.
    Es gibt Sachen, die kann man erst dann glauben, wenn man sie mit eigenen Augen gesehen hat, und das gilt auf jeden Fall für diese Leute. Ich konnte es nicht ganz glauben, dass Glenn so was wirklich durchgezogen hat; auch Croze hab ich nicht geglaubt, obwohl er diese Leute ja selbst gesehen hatte. Aber jetzt sind sie hier, direkt vor meiner Nase. Es ist, als würde man plötzlich Einhörner sehen. Ich will sie schnurren hören.
    *
    Als sie uns entdecken − erst eines der Kinder, dann eine Frau, dann alle zusammen −, hören sie auf mit dem, womit sie sich gerade beschäftigen, drehen sich geschlossen um und starren uns an. Sie sehen nicht verängstigt oder bedrohlich aus: sie sehen interessiert, aber gelassen aus. So ähnlich gucken die Mo’Hairschafe, und sie kauen auch genau wie Mo’Hairschafe. Was immer sie da essen, es ist grün: Einige Kinder staunen so sehr über uns, dass ihre Münder offen stehen.
    »Hallo«, sagt Toby. Zu mir sagt sie: »Bleib hier.« Sie macht einen Schritt nach vorn. Einer der Männer steht auf − er hatte neben dem Feuer gehockt − und stellt sich vor die anderen.
    »Sei gegrüßt«, sagt er. »Bist du ein Freund von Schneemensch?«
    Ich kann geradezu hören, wie Toby die Möglichkeiten abwägt: Wer ist Schneemensch? Wenn sie ja sagt, gilt sie dann als Feind? Und wenn sie nein sagt?
    »Ist Schneemensch gut?«, fragt Toby.
    »Ja«, sagt der Mann. Er ist größer als die anderen und scheint ihr Wortführer zu sein. »Schneemensch ist sehr gut. Er ist unser Freund.« Die anderen nicken und kauen.
    »Dann sind wir auch seine Freunde«, sagt Toby. »Und wir sind auch eure Freunde«, fügt sie hinzu.
    »Ihr seid wie er«, sagt der Mann. »Ihr habt eine zweite Haut wie er. Aber ihr habt keine Federn. Wohnt ihr auf einem Baum?«
    »Federn?«, fragt Toby. »Auf seiner zweiten Haut?«
    »Nein, im Gesicht«, sagt der Mann. »Ein anderer ist gekommen, wie Schneemensch. Mit Federn. Und noch einer, mit kurzen Federn. Und eine Frau mit blauem Geruch, die sich aber nicht blau benahm. Ist die Frau, die du mitgebracht hast, blau?«
    Toby nickt, als würde sie das alles verstehen. Vielleicht versteht sie es wirklich. Man weiß nie so ganz genau, was sie eigentlich alles versteht.
    »Sie hat blauen Geruch«, sagt ein anderer Mann. »Die Frau, die du mitgebracht hast.« Alle Männer schnuppern in meine Richtung, als wäre ich eine Blume oder ein Käse. Einige von ihnen haben jetzt eine riesengroße blaue Erektion. Croze hatte mich zwar vorgewarnt, aber so etwas kenne ich nicht, nicht mal aus dem Scales, wo Körperbemalungen und Verlängerungen keine Seltenheit waren. Einige dieser Männer geben ein seltsames Summen von sich, wie wenn man mit dem Finger über den Rand eines Glases streicht.
    »Aber die andere Frau, die hier war, hatte Angst, als wir sie angesungen und ihr Blumen gegeben und ihr mit unserem Penis Zeichen gemacht haben«, sagt der Anführer.
    »Ja. Die beiden Männer hatten auch Angst. Sie sind weggelaufen.«
    »Wie groß war sie?«, fragt Toby. »Die Frau. Größer als diese?« Sie zeigt auf mich.
    »Ja. Größer. Sie war nicht gesund. Und sie war traurig. Wir hätten sie gern angeschnurrt und gesund gepflegt. Dann hätten wir uns

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