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Das Jahr der Flut

Das Jahr der Flut

Titel: Das Jahr der Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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die glitschigen, glänzenden Innereien. Sie hatten Rehgulasch gegessen, und ihre Mutter hatte die Knochen für Suppe ausgekocht. Aber meist schossen Toby und ihr Vater auf Blechdosen und auf Ratten auf der Müllkippe − damals gab es noch eine Müllkippe. Zur Freude ihres Vaters hatte sie viel geübt. »Guter Schuss, Kumpel«, sagte er dann.
    Hätte er lieber einen Sohn gehabt? Vielleicht. Damals sagte er immer, jeder müsse schießen können. Seine Generation glaubte, dass man, wenn es Schwierigkeiten gab, einfach nur jemanden erschießen müsste, und schon wäre alles gut.
    Dann hatte das CorpSeCorps im Interesse der öffentlichen Sicherheit alle Feuerwaffen verboten, die neu erfundenen Spraygewehre für sich reserviert, und mit einem Mal waren die Menschen offiziell unbewaffnet. Ihr Vater hatte sein Gewehr und einen Vorrat Munition unter einem Haufen alter Zaunlatten vergraben und Toby die Stelle gezeigt, nur für den Fall. Das CorpSeCorps hätte die Waffe mit seinem Metalldetektoren finden können − den Gerüchten nach wurden Razzien durchgeführt. Aber es konnte ja nicht überall suchen, und ihr Vater galt als harmlos. Er verkaufte Klimaanlagen. Er war ein ganz kleiner Fisch.
    *
    Dann wollte ein Entwickler sein Land kaufen. Das Angebot war gut, aber Tobys Vater wollte nicht verkaufen. Ihm gefalle es dort, wo er sei, sagte er. Tobys Mutter, die auf der nächstgelegenen Einkaufsmeile einen HelthWyzer-Laden für Nahrungsergänzungsmittel leitete, sah das genauso. Sie lehnten ein weiteres Angebot ab, und ein drittes. »Wir bauen euch zu«, sagte der Entwickler. Meinetwegen, sagte Tobys Vater. Es ging längst nur noch ums Prinzip.
    Für ihn war die Welt noch immer wie vor fünfzig Jahren, denkt Toby. Er hätte nicht so auf stur schalten dürfen. Schon damals arbeitete das CorpSeCorps an der Konsolidierung seiner Macht. Begonnen hatte es als privates Sicherheitsunternehmen für die Konzerne, später aber die Kontrolle übernommen, als die örtliche Polizei wegen Unterfinanzierung zusammenbrach, und erst mal gefiel das den Leuten, weil die Konzerne zahlten, aber inzwischen fuhren sie überall ihre Tentakel aus. Er hätte nachgeben sollen.
    Erst verlor er seinen Job bei dem Klimaanlagenhersteller. Er fand einen neuen als Verkäufer von Isolierfenstern, verdiente aber weniger. Dann zog sich Tobys Mutter eine seltsame Krankheit zu. Es war ihr unverständlich, denn sie hatte immer sehr auf ihre Gesundheit geachtet: Sie machte Fitness, aß viel Gemüse, schluckte jeden Tag ihren HelthWyzer TurboVitalVitamin-Zusatz. Franchise-Manager wie sie erhielten einen Nachlass auf die Nahrungsergänzungsmittel – ein individuell zugeschnittenes Paket, genau wie die ganz hohen HelthWyzer-Tiere.
    Obwohl sie noch mehr Zusätze schluckte, wurde sie kraftlos und verwirrt und nahm immer mehr ab: Es war, als hätte sich ihr Körper gegen sich selbst gerichtet.
    Kein Arzt war in der Lage, irgendeine Diagnose zu stellen, obwohl in den HelthWyzer-Kliniken jede Menge Tests durchgeführt wurden; man zeigte Interesse, weil sie doch eine so treue Konsumentin der Produkte war. Sie ordneten eine hauseigene Sonderbehandlung an. Allerdings wurde alles in Rechnung gestellt, und selbst mit dem Nachlass für die HelthWyzer Franchise-Familie war es eine Menge Geld; und da die Krankheit keinen Namen hatte, weigerte sich die bescheidene Krankenversicherung ihrer Eltern, die Kosten zu übernehmen. Niemand hatte bei Krankheit Anspruch auf Kostendeckung, es sei denn, er hatte keinerlei eigenes Geld.
    Nicht dass man sich auf einen dieser öffentlichen Wühltische hätte begeben wollen, dachte Toby. Die stocherten einem nur auf der Zunge herum und verpassten einem ein paar Viren und Bazillen, die man noch nicht hatte, bevor sie einen wieder nach Hause schickten.
    *
    Tobys Vater nahm eine zweite Hypothek auf das Haus auf und stopfte den Ärzten, angeheuerten Pflegerinnen und Krankenhäusern das Geld in den Rachen. Doch Tobys Mutter siechte weiter dahin.
    Dann musste Tobys Vater für eine weitaus geringere Summe als die, die man ihm eingangs geboten hatte, das weiße Holzhaus verkaufen. Am Tag nach dem Verkaufsabschluss machten die Planierraupen das Grundstück platt. Ihr Vater kaufte ein anderes Haus, ein winziges Terrassenhaus in einer neuen Trabantenstadt mit dem Beinamen Big Box, da sie von einer ganzen Armada von Megastores flankiert war. Er hatte sein Gewehr ausgegraben, es zum neuen Haus geschmuggelt und wieder vergraben, diesmal in dem kümmerlichen

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