Das Jahr der Kraniche - Roman
stand wirr um ihren Kopf, ihre mageren Arme mit den blauen Adern schlugen um sich. Noch war sie gefangen in ihrem Albtraum. Keuchend wehrte sie sich gegen den unheimlichen Angreifer.
»Beruhige dich, Jette. Es war doch nur dein Traum. Komm, sieh mich an. Ich bin es, Mike. Sieh mich an, Jette. Es ist alles gut.«
Jettes Atem ging stoßweise. Tränen rannten ihr über die faltigen Wangen.
»Er will… mich töten.«
Ihre Schreie verebbten in leisen Schluchzern.
Mike, der seit einem halben Jahr in der Alteneinrichtung arbeitete, in der Jette Politschek ihre letzten Jahre verbrachte, hielt die zarten, schmalen Hände der alten Frau fest, während er beruhigend auf sie einredete.
»Sieh mal, Jette, die Fenster sind verschlossen. Hier kann der Kranich gar nicht rein.« Er lachte leise, während er ihr die wirren Haare glatt strich. »Und ich bin ja auch noch da. An mir kommt keiner vorbei.«
Es dauerte eine Weile, bis die alte Frau sich beruhigen konnte. Mike brachte ihr ein Glas Wasser, und er zog ihr eine warme Strickjacke über, weil sie wie immer, wenn sie diesen Albtraum gehabt hatte, am ganzen Leib zitterte. Gleich würde er Wasser aufsetzen, um eine Wärmflasche zu machen. Er würde sie ihr an die eisigen Füße legen, sie dann gut zudecken und bei ihr bleiben, bis sie eingeschlafen war. Das allerdings konnte dauern, das wusste er. Denn die Bilder des Albtraums kamen zurück, sobald Jette die Augen schloss.
Sie fing wieder an, zu zittern und um sich zu schlagen, bis sie endlich die Augen aufriss und erkannte, dass sie nicht in Gefahr war.
Die anderen hatten ihn darauf vorbereitet, dass die Nachtdienste auf der Station, in der Jette wohnte, anstrengend sein konnten. Monatelang passierte nichts. Aber wenn Jette von ihrem Albtraum geplagt wurde, schrie sie das ganze Haus zusammen und war kaum zu beruhigen. Mike tat die winzige alte Frau, die tagsüber wie ein junges Mädchen lachen konnte und die schönsten Geschichten aus ihrem Leben erzählte, leid. Er hatte versucht, mit ihr über ihren Traum zu reden. Wie lange sie denn schon von diesem Vogel träume? Ob sie wisse, wann das angefangen habe? Ob es irgendetwas in ihrem Leben gab, worauf sie ihren Traum zurückführen konnte?
Doch Jette hatte immer nur gesagt, dass sie keine Ahnung habe. Sie hatte nichts gegen Kraniche. Im Gegenteil, die großen Vögel, die im Frühjahr und im Herbst überall auf den Wiesen um Templin herum Futter suchten, gefielen ihr eigentlich. Als Kind hatte sie nächtelang wach gelegen und in die Dunkelheit gelauscht. Und dann waren sie irgendwann zu hören gewesen, die hellen Schreie der Vögel, die am Nachthimmel in Richtung Süden oder Norden flogen. Sie war hinaus auf den Hof gerannt und hatte in den Himmel gestarrt. Sie hatte die langen Linien mit dem Haken an der Spitze, die die Vögel bildeten, mit den Augen verfolgt, bis sie in der Ferne erst zu einem Federstrich zwischen den Wolken wurden und sich dann ganz verloren. Wenn die Kraniche geflogen kamen, das hatte sie gewusst, war der Frühling nicht mehr weit. Und auf ihrem Rückflug kündigten sie den Herbst an, den sie fast genauso liebte wie den Frühling.
Nein, es gab einfach nichts Negatives, was sie mit den Kranichen in Verbindung bringen konnte. Sie konnte sich nicht erklären, was dieser Traum zu bedeuten haben konnte.
Es sei denn… Er wollte sie auf ihren nahen Tod vorbereiten.
Als sie Mike das zum ersten Mal gesagt hatte, war er erschrocken zusammengezuckt. Er war gerade mal einundzwanzig Jahre alt. Der Tod war für ihn keine Option. Jette hatte seinen Schrecken sehr wohl wahrgenommen.
»Wenn man jung ist, denkt man, das Leben sei endlos. Ich weiß das. Aber in meinem Alter…« Sie hatte sich über ihn lustig gemacht. »Du arbeitest in einem Altenheim und willst nichts vom Tod wissen?«
Er hatte sich geschämt. Aber sie hatte recht gehabt. Er wollte sich nicht damit auseinandersetzen, dass die Menschen, mit denen er es hier zu tun hatte, sich auf der letzten Station ihrer Lebensreise befanden. Ihm waren die Heimbewohner, die über alles redeten, nur nicht darüber, dass sie schon bald sterben würden, lieber als Jette Politschek, die ihm jeden Morgen zur Begrüßung sagte, dass sie nun wieder einen Schritt näher ans Grab herangegangen sei.
»Hast du denn keine Angst vor dem Tod?«
Er hatte erwartet, dass sie– wie viele Leute– sagen würde, dass sie nicht vor dem Tod, wohl aber vor dem Sterben Angst hätte. Sie hatte leise gelacht.
»Manche sagen ja, der
Weitere Kostenlose Bücher