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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Tod, das sei wie schlafen. Ich hoffe sehr, dass das nicht so ist. Wenn ich tot sein werde, will ich endlich Ruhe. Und auf keinen Fall will ich mehr träumen.«
    Mike hatte viele Nächte an Jettes Bett gesessen. Auch wenn sie längst wieder eingeschlafen war, hatte er ihre Hand gehalten und auf ihren Atem gelauscht. Die magere Gestalt, deren Knochen sich unter dem dicken Baumwollnachthemd, das sie sommers wie winters trug, deutlich abzeichneten und die ihm, wenn er sie festhalten musste, vorkam wie der Körper eines kleinen dünnen Mädchens, rührte ihn. Bestimmt war sie einmal eine schöne Frau gewesen, anmutig und beweglich. Mit rötlichem Haar, in dem sich die Sonne fing, und leuchtenden grünen Augen, die auch heute noch hin und wieder aufstrahlten. Selbst jetzt, mit fast neunzig Jahren, konnte sie lustig und kokett sein, sogar mit ihm flirten. Ihr Geist war zwar oft verwirrt, aber es gab auch gute Momente, in denen sie ganz klar und wach war. Jeden Tag ließ sie sich von Mike oder einem seiner Kollegen aus der Zeitung vorlesen, sah sich die Nachrichten im Fernsehen an, auch wenn sie die Bilder schon lange nicht mehr so gut erkennen konnte. Am liebsten aber hatte sie Naturfilme. Sie hatte damals als junge Frau viele Reisen nach Afrika und Indien gemacht, auf den Galapagosinseln war sie gewesen und in Grönland, und überall hatte sie vor allem die Tierwelt interessiert. Dass ihr ein Tier Angst machte, das hatte es nie gegeben. Mike fragte sich manches Mal, wenn Jette wieder in höchster Panik aus ihrem Albtraum aufwachte, wieso es gerade die Kraniche waren, die sie so beunruhigten. Vögel, die den Menschen noch nie gefährlich geworden waren und die, wie er herausgefunden hatte, seit jeher als Boten des Glücks galten. Wenn es ihr gut ging, lachte Jette über sich selbst. Sie konnte es sich auch nicht erklären, woher ihr Albtraum kam. Es sei denn… Aber instinktiv wusste sie, dass ihre selbst gestrickte Erklärung, dass der Traum sie auf den Tod vorbereiten wollte, Unsinn sein musste. Zu lange hatte sie den Traum schon. Und sie war doch immer noch am Leben.
    »Du kannst gehen, Mike. Ich bin ja nicht die Einzige, um die du dich kümmern musst.«
    Sie legte den Kopf auf das Kissen zurück. Es war nur ein Traum. Ihr konnte wirklich nichts passieren. Das wusste sie, doch trotzdem hatte sie Angst, die Augen wieder zu schließen.
    »Wir werden in den nächsten Tagen einen Ausflug machen, Jette. Die Kraniche sind zurück. Und vielleicht, wenn du sie in natura siehst, begreift dein Unterbewusstsein, dass es Quatsch ist, sich vor ihnen zu fürchten.«
    Mike hatte im Internet einen Artikel über Konfrontationstherapie gelesen. Menschen, die unter Klaustrophobie litten, sollten Aufzug fahren, Leute, die sich vor Spinnen fürchteten, sollten in den Zoohandel gehen und sich Terrarien ansehen.
    Wieso sollte das nicht auch bei Jette klappen? Er würde mit ihr zu den Wiesen fahren, auf denen die Kraniche sich tagsüber die Bäuche für ihre Kräfte zehrende Reise vollschlugen. Vielleicht würde es Jette ja helfen. Und wenn nicht, schaden würde es ihr sicher auch nicht.
    »Ja«, sagte Jette, »das ist vielleicht eine gute Idee. Das machen wir.«
    Sie schloss die Augen. Und Mike spürte, wie sich ihre Hand fester um die seine krampfte.
    Marius wachte auf, als Elke leise ins Zimmer kam. Ob sie eigentlich wusste, wie leicht sein Schlaf war? Er wachte auf, wenn sie im Traum leise stöhnte. Er wachte auf, wenn sie auf nackten Füßen leise zur Tür tappte und versuchte, sie so geräuschlos wie möglich zu öffnen, und er wachte auf, wenn sie wieder ins Bett zurückkam. Einen sehr festen Schlaf hatte er ohnehin nie gehabt, aber seit er wieder angefangen hatte, sich Sorgen um Elke zu machen, war es ihm, als wäre sein Gehirn Tag und Nacht darauf gepolt, auf sie aufzupassen.
    Er spürte die Kälte, die sie mit sich brachte, als sie ins Bett schlüpfte. Also war sie wieder draußen gewesen. Wie in jeder Nacht, als Jan vor sechs Wochen zurückgekehrt war. Anfangs hatte er noch gehofft, dass es sich nur um eine kurze Phase handelte. Doch inzwischen wusste er es besser.
    Als sie sich an ihn drängte, rückte er wie unabsichtlich ein Stück von ihr weg. Ihre kühle Hand griff nach ihm, strich über seinen Schlafanzug, fuhr weiter hinab, schlüpfte in seine Hose. Obwohl sein Penis sofort auf die Berührung reagierte und steif wurde, drehte er sich zur Seite. Er wollte nicht mit ihr schlafen. Es war ihm egal, dass sein Körper noch immer auf

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