Das Jahr des Hasen
Ruf: »Komm endlich! Wir schaffen es nie bis Helsinki, wenn du noch lange in dem verdammten Wald rumläufst. Los jetzt, oder sieh zu, wie du allein nach Hause kommst!«
Der Redakteur antwortete nicht. Er hielt das kleine Tier im Arm. Anscheinend war es ansonsten unverletzt, und allmählich beruhigte es sich.
Der Fotograf stieg aus dem Auto und starrte wütend in den Wald. Von seinem Kollegen keine Spur. Er fluch te, zündete eine Zigarette an und lief unruhig auf und ab. Da sich im Wald nichts rührte, zertrat er die Zigaret te und schrie: »Dann bleib hier, du Blödmann. Viel Spaß!«
Er lauschte noch einen Moment, und als keine Ant-wort kam, stieg er wutentbrannt ins Auto, legte mit hektischen Bewegungen den Gang ein und fuhr los. Der Schotter knirschte unter den Rädern. Kurz darauf war das Auto verschwunden.
Den Hasen im Arm, saß der Redakteur am Graben-rand, und er glich einer alten Frau, die mit dem Strick zeug im Schoß ihren Gedanken nachhängt. Das Moto rengeräusch verebbte in der Ferne. Die Sonne ging unter.
Er setzte das Häschen ins Gras und fürchtete einen Moment, das Tier würde die Flucht ergreifen, aber es blieb zwischen den Halmen sitzen, und als er es wieder aufhob, hatte es keine Angst mehr.
»Da sitzen wir nun«, sagte der Mann zum Hasen. Dies war der Stand der Dinge: Er saß allein mitten im
Wald, an einem Sommerabend, im Jackett. Eigentlich war er regelrecht ausgesetzt worden.
Was macht man gewöhnlich in einer solchen Situati on? Der Redakteur sagte sich, daß er auf die Rufe des Fotografen hätte antworten müssen. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als zur Landstraße zurückzugehen und auf das nächste Auto zu warten, er mußte auf eigene Faust nach Heinola oder Helsinki gelangen.
Der Gedanke gefiel ihm ganz und gar nicht. Er sah in seine Brieftasche. Sie enthielt ein paar
Hunderter, den Presseausweis, die Krankenversiche rungskarte, ein Foto seiner Frau, einige Münzen, Kon dome, einen Schlüsselbund, ein altes Mai-Abzeichen; ferner Stifte, einen Schreibblock, den Ehering. Auf den Schreibblock hatte sein Arbeitgeber drucken lassen: Kaarlo Vatanen, Redakteur. Laut Kennzahl auf der Versicherungskarte war Kaarlo Vatanen 1942 geboren.
Vatanen stand auf, betrachtete das letzte Sonnenlicht hinter den Bäumen, nickte dem Hasen zu. Er blickte zur Landstraße hin, tat aber keinen Schritt in diese Rich-tung. Er hob den Hasen hoch, verstaute ihn vorsichtig in der Seitentasche seines Jacketts und ging über die Wiese auf den Wald zu. Es wurde schon dunkel.
Der Fotograf war immer noch wütend, als er Heinola erreichte. Dort tankte er und beschloß, in das Hotel zu gehen, das der Redakteur zum Übernachten vorgeschla gen hatte.
Er nahm ein Zweibettzimmer, legte die staubigen Kleider ab und ging unter die Dusche. Nachdem er sich gewaschen hatte, ließ er sich im Hotelrestaurant nieder. Er sagte sich, der Redakteur werde sicher bald auftau chen, dann könnten sie die Sache in Ordnung bringen. Er trank ein paar Bier, und als er gegessen hatte, ging er zu härteren Sachen über.
Vom Redakteur keine Spur.
Spät in der Nacht saß der Fotograf noch immer in der Hotelbar. Er starrte auf den schwarzen Tresen und beklagte grimmig sein Schicksal. Den ganzen Abend über hatte er nachgedacht und eingesehen, daß es ein Fehler gewesen war, seinen Kollegen in einer fast unbe wohnten Gegend im Wald zurückzulassen. Vielleicht hatte sich der Redakteur das Bein gebrochen, sich verirrt oder war in einem Moorloch ertrunken. Denn sonst wäre er doch nach Heinola gelangt, notfalls zu Fuß.
Der Fotograf beschloß, Vatanens Frau in Helsinki an zurufen.
Sie antwortete verschlafen, Vatanen sei nicht bei ihr, und als sie merkte, daß der Anrufer betrunken war, legte sie den Hörer auf. Der Fotograf wählte ein zweites Mal die Nummer, aber niemand nahm ab. Die Frau hatte offenbar den Stecker herausgezogen.
Noch vor Morgengrauen bestellte sich der Fotograf ein Taxi. Er wollte nachsehen, ob der Redakteur noch an dem Ort war, an dem er ihn zurückgelassen hatte. Der Taxichauffeur fragte seinen betrunkenen Fahrgast, wohin er fahren wolle.
»Einfach hier die Straße lang, ohne besonderes Ziel. Ich sage Bescheid, wo Sie anhalten sollen.«
Der Chauffeur warf einen Blick nach hinten. Eine Fahrt auf nächtlicher Straße in Richtung Wald, ohne besonderes Ziel also. Er holte unauffällig die Pistole aus dem Handschuhfach und legte sie zwischen seine Knie. Beunruhigt musterte er den
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