Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
haben wir um ein weiteres Jahr verschoben. Wenn ich nämlich ihre Patentante werden soll, muss ich mich konfirmieren lassen, meine Taufe allein reicht da nicht. Darüber war sogar Omi überrascht. Jetzt überlege ich, was ich machen soll. Von der Pfarrerin habe ich erfahren, dass der Kurs meines Jahrgangs schon seit einem Jahr läuft, aber sie würde mich noch reinrutschen lassen.
Ich habe allerdings ziemliche Zweifel, ob ich das überhaupt machen soll. Ich bin ja schon Marias Schwester. Das reicht eigentlich.
Meine Mutter sagt, ich solle mich bitte bis Ende August entscheiden. Ich habe mal wieder eine Galgenfrist. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Ich kann nur staunen, was im letzten Jahr alles passiert ist. Meistens bin ich richtig froh, aber oft bin ich auch traurig.
Manu sehe ich nur noch in der Schule. Sie lebt in einem Kokon aus Traurigkeit. Sie webt sich immer fester ein. Ich habe ihr gesagt, dass ich ihre Geschichte der Pfarrerin erzählt habe. Ich habe ihr auch das mit dem Beichtgeheimnis erklärt. Manu braucht also keine Angst zu haben. Niemand wird sie verraten. Das hat ihre Wut etwas gedämpft. Ich habe ihr auch gesagt, dass ich die vielen Geheimnisse nicht mehr aushalten kann. Und dass ich vor allem meine Familie nicht mit reinziehen will. »Du bist meine Freundin«, habe ich ihr versichert.
Sie hat sich umgedreht und ist weggegangen. Sie hat nicht mit mir gestritten, nicht geschrien, nicht geweint. Aber sie hat seitdem nie wieder mit mir gesprochen. Gemeinsame Osterferien und die Pläne mit Omi konnte ich vergessen.
Ich war mit Ulli in der Sächsischen Schweiz und habe nicht nur Wanderschuhe geschenkt bekommen, sondern auch einen kleinen Rucksack. Es war herrlich! Ulli und ich haben im Kämmerchen unterm Dach geschlafen und bis zum Einschlafen geflüstert. Ich habe Manu nicht verraten. So weit bin ich treu.
Omi habe ich trotzdem eingeweiht. Ich habe sie kurz nach meinem Gespräch mit der Pfarrerin und nachdem Manu sich umgedreht hat und weggegangen ist, angerufen und ihr alles erzählt. Sie hat nicht viel gesagt, nur, dass ich Manu jederzeit mit zu ihr bringen kann. Aber das war umsonst. Bis jetzt jedenfalls.
Ich sehe Manu jeden Tag. Sie geht an mir vorbei, als wäre ich Luft. Und trotzdem weiß ich, dass sie mich bemerkt hat und ganz absichtlich wegsieht. Ich sage immer »Hallo!« zu ihr. Es sind nur noch ein paar Wochen bis zum Ende des Schuljahrs, dann wechseln wir beide die Schule. Ich weiß nicht, an welche Schule sie gehen wird. Ich könnte sie aus den Augen verlieren. Ich hoffe, das passiert nicht.
Ich würde den Kokon so gern zerstören. Bloß wie? Ob ich Omis Angebot annehmen soll, dass sie mit Carsten redet, wenn ich das will? Ich lass mir das durch den Kopf gehen.
Ich glaube, ich werde bald Omis Nummer wählen und sie bitten, das zu tun. Wenn Carsten mit Graf redet, nützt es vielleicht was. Er kann das wahrscheinlich ganz gut mit seiner ruhigen, bestimmten Art. Carsten muss Graf klarmachen, was für ein gefährliches und unverantwortliches Spiel er da treibt. Und er muss ihn dazu bringen, mit dem Scheiß aufzuhören. Ganz und gar und für immer und ewig.
Das ist das Einzige, was ich noch machen kann. Vielleicht ist das dann auch eine Chance für Manu, aus dieser Geschichte endlich rauszukommen.
Christiane Thiel
© privat
Christiane Thiel, geboren 1968, wuchs im sächsischen Freiberg auf. Sie studierte zunächst Mathematik, später Theologie. Heute ist sie Stadtjugendpfarrerin in Leipzig. Das Jahr, in dem ich 13½ war ist ihre erste literarische Veröffentlichung.
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