Das Jahr, in dem ich 13 1/2 war - Roman
sich am Tresen noch einen Kaffee, mir bringt sie einen Tee mit. Die Bauarbeiter, die hier ihre Bockwurst essen, glotzen sie neugierig an. Obwohl sie aussieht wie ein Schluck Wasser, ist sie immer noch schön, stolz, verschlossen.
Bevor wir gehen, sieht sie mich kühl an. »Ich kann mich auf dich verlassen?«
Klar! Eine Freundin lässt man nicht im Stich.
20
Eine Freundin lässt man nicht im Stich! Das dröhnt mir eine tiefe Stimme ins Ohr und schreit und schreit und schreit. Ich fahre hoch und werfe die Decke weg. Ich habe geträumt, und ich habe geträumt, dass ich geträumt habe. Ich bin völlig durch den Wind.
Mella wacht auf. »Was ist los? Tine? Du schläfst so unruhig. Hast du Fieber?« Sie richtet sich auf und legt ihre kühle Hand an meine Stirn. »Nein«, bestätigt sie meine Vermutung.
»Ich habe schlecht geträumt.«
»Was ist los? Du siehst schon seit zwei Tagen so niedergeschlagen aus! Wie eine traurige Katze«, sagt der Katzendrachen.
Ich muss grinsen und lasse mich zurückfallen. »Wie kommst du denn darauf? Ich habe noch nie einer Katze ähnlich gesehen.«
»Vielleicht kommt das mit der Pubertät?«, meint sie fast ernst. »Wir haben das in der Ausbildung gehabt, wie Menschen sich in den Lebensaltern verändern. Und gerade Frauen, wenn sie zwischen zwölf und achtzehn Jahre alt sind.«
»Na dann, vielleicht werde ich ja zur Katze. Aber lieber …«, fange ich jetzt einen Satz an, bei dem ich schon vorher weiß, dass Mella gleich fürchterlich schreien wird, und darauf freue ich mich schon, »…werde ich zur Ratte.« Dabei schiebe ich meine Hand unter ihre Decke und versuche, sie zu krabbeln.
Aber sie ist schon mit einem lauten Schrei aufgesprungen und lacht und kreischt und versucht aufgeregt, die Leiter runterzukommen. »Eine Ratte! Iiih, eine Ratte!«
Ich springe auf meinem Bett hin und her und schreie: »Hier ist sie! Hier! Nein, hier!«
Die Tür geht auf und meine Mutter kommt grinsend rein. Sie kennt das Spiel und manchmal macht sie es mit. Dann kann es aber passieren, dass Mella plötzlich ernsthaft zu weinen anfängt. So war es jedenfalls früher.
»Von wegen erwachsen!«, tut sie empört. »Da müsstest du deine Mäuse- und Rattenphobie aber langsam mal im Griff haben.«
Mella fährt herum, der Katzendrachen blitzt auf und sie schreit: »Hört auf! Ich kann schon das Wort Mäuse- und Rattenphobie …«
»Gut, keine Ratten, keine Mäuse«, sagt meine Mutter und hat dabei einen bösen Schalk auf der Schulter. Wir wissen, dass wir nur die beiden Tiere erwähnen müssen, und schon spielt Mella verrückt. »Aber unsere erwachsene Tochter mag das nicht. Also heute ist ja das große Geburtstagsfeierwochenende und deshalb gehen ihre Wünsche vor. Keine Ratten, keine Mäuse«, legt sie noch mal nach. Mella kringelt sich vor Ekel. »Dafür Kuchen von Omi und Geschichten von Opa. Heute Nachmittag sind sie hier. Und wir wollen jetzt frühstücken, wenn es recht ist.«
Eine Freundin lässt man nicht im Stich.
Erst langsam wird mir die ganze Tragweite meines Versprechens klar. In meinem Kopf jagen sich die Gedanken. Ich kann das unmöglich meiner Mutter erzählen.
Aber was soll ich machen, wenn das Telefon klingelt? Soll ich so schnell rennen, dass ich immer als Erste den Hörer abnehme? Es könnten ja Manus Eltern sein! Das klappt nie, unmöglich. Und wie soll das nachts gehen, wenn Manu angeblich bei mir schläft?
Ich muss meine Mutter einweihen. Ich muss! Ich muss!
Was muss ich eigentlich? Ich sitze am Kaffeetisch und sehe den Kuchen an, den Omi mitgebracht hat. Der Kuchen klagt mich an: Wie stellst du dir das vor? Wie soll das funktionieren? Ich sehe die Butterbrötchen an, die es bei uns immer zum Kaffee gibt, und sie klagen mich an: Wie kannst du dich auf so was einlassen?
Ich sitze da und bin stumm.
Als das Telefon klingelt, lasse ich die Tasse fallen. Meine Hose wird von heißem Tee überschwemmt. Ich spüre den Schmerz, aber ich kann mich nicht bewegen. Mella ist schon zum Telefon gegangen. Ich lausche. Sind das Manus Eltern? Fragen sie, ob Manu hier ist?
Mella sagt gerade: »Ja, geht klar … Also bis morgen Abend … tschüss.«
Ich stelle fest, dass ich mit offenem Mund dasitze und Löcher in die Luft starre. Sehen kann ich nichts, ich fühle nichts mehr, sitze nur da.
»Deine Milchzähne werden faul«, sagt Mella und löst damit den Bann.
Omi steht auf und streckt mir die Hand entgegen. »Komm, wir gehen ins Bad. Du bist ja ganz nass.«
Ich folge ihr wie im Traum.
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