Das Janusprojekt
Hauptscharführer Adolf Eichmann. Hagen war Anfang zwanzig und ein milchgesichtiger Intellektueller, Akademiker aus gutem Hause. Eichmann war ein paar Jahre älter und bestrebt, etwas Besseres zu werden als österreichischer Reisevertreter einer Ölfirma, was er vor seinem Eintritt in die Partei und die SS gewesen war. Die beiden waren auf eine bizarre Art vom Judentum fasziniert – merkwürdige Antisemiten. Eichmann hatte mehr Erfahrung im Judenreferat, sprach Jiddisch und verbrachte den größten Teil der Seereise mit der Lektüre von Theodor Herzls Buch Der Judenstaat . Die Reise war Eichmanns Idee gewesen. Er schien überrascht, dass seine Vorgesetzten sich darauf eingelassen hatten, und auch ein bisschen aufgeregt, weil er noch nie über Deutschland und Österreich hinausgekommen war. Hagen war ideologischer Nazi und ein glühender Zionist, denn er glaubte, die Partei habe «keinen größeren Feind als den Juden» (oder etwas ähnlich Blödsinniges) und die «Lösung der Judenfrage» könne nur in der «restlosen Entjudung» Deutschlands bestehen. Es machte mich ganz krank, ihn reden zu hören. Für mich klang das alles völlig verrückt. Wie aus Alice im Wunderland, nur unter bösen Vorzeichen.
Beide begegneten mir, wie ich geahnt hatte, mit Argwohn. Nicht nur, weil ich nicht aus dem SD und ihrem speziellen Referat kam, sondern auch, weil ich älter war als sie – in Hagens Fall fast zwanzig Jahre. Und bald schon nannten sie mich scherzhaft «Papi», was ich gutmütig hinnahm – jedenfalls gutmütiger als Hagen den Spitznamen, den ich ihm, sehr zu Eichmanns Belustigung, im Gegenzug verlieh: Hiram Schwartz, nach dem gleichnamigen jungen Tagebuchschreiber. Daher hatte, als wir um den 2. Oktober Jaffa erreichten, Eichmann mehr für mich übrig als sein junger, unerfahrener Kollege.
Eichmann war keineswegs eine beeindruckende Erscheinung, und damals dachte ich, er sei wahrscheinlich der Typ Mann, der in Uniform besser aussieht. Ja, mir kam sogar bald der Verdacht, dass die Uniform der Hauptgrund für seinen Eintritt in die SA und dann in die SS gewesen war. Ich bezweifelte nämlich, dass ihn die reguläre Armee genommen hätte, wenn es denn eine solche gegeben hätte. Er war gerade mal mittelgroß, o-beinig und sehr dünn. Im Oberkiefer hatte er zwei Goldbrücken und viele Füllungen. Sein Kopf hatte Ähnlichkeit mit dem Totenkopf auf dem Mützenabzeichen der SS: Er war extrem knochig, mit auffallend eingesunkenen Schläfen. Mir fiel auf, wie jüdisch Eichmann aussah. Und mir kam der Gedanke, dass seine Antipathie gegen Juden damit zu tun haben könnte.
Ab dem Moment, als die Romania in Jaffa anlegte, lief es für die beiden SS-Leute gar nicht gut. Die Briten hatten offenbar den Verdacht, dass Eichmann und Hagen in deutschem Geheimdienstauftrag standen, und nach langem Hin und Her ließen sie sie schließlich für ganze vierundzwanzig Stunden an Land. Ich hingegen erhielt problemlos ein Dreißig-Tage-Visum für Palästina. Das war eine ziemliche Ironie, da ich höchstens vier, fünf Tage bleiben wollte, und für Eichmann ein ziemlicher Schlag, weil es seine gesamten Pläne über den Haufen warf. Er schimpfte, während eine Pferdekutsche uns und unser Gepäck vom Hafen ins Hotel Jerusalem am Rand der berühmten «deutschen Kolonie» der Stadt brachte.
«Was sollen wir jetzt machen?», klagte Eichmann. «Unsere wichtigsten Treffen sind alle übermorgen, wenn wir schon wieder auf dem Schiff sein müssen.»
Ich lächelte stillvergnügt vor mich hin. Jeder Knüppel zwischen die Beine des SD war mir willkommen, und dieser ganz besonders, weil er es mir ersparte, mir eine Geschichte für die Gestapo ausdenken zu müssen. Männer, die kein Visum bekommen hatten, konnte ich ja wohl schlecht bespitzeln. Ich dachte, es würde die Gestapo vielleicht sogar so sehr erfreuen, dass sie über den Mangel an konkreten Informationen hinwegsehen würde.
«Vielleicht kann Papi ja zu den Treffen gehen», sagte Hagen.
«Ich?», sagte ich. «Kommt nicht in Frage.»
«Ich verstehe immer noch nicht, warum er ein Visum gekriegt hat und wir nicht», sagte Eichmann.
«Weil er diesem Juden von Dr. Six hilft», sagte Hagen. «Der Jid hat das vermutlich für ihn geregelt.»
«Kann sein», sagte ich. «Kann aber auch sein, dass Sie beide einfach nicht besonders gut in diesem Metier sind. Sonst hätten Sie sich keine Legende ausgedacht, der zufolge Sie ausgerechnet bei einer Nazizeitung arbeiten. Noch dazu bei einer Nazizeitung, die
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