Das Jüngste Gericht: Die Wissenschaft der Scheibenwelt 4 (German Edition)
zufrieden zu sein scheinen. Diese Komplizität zwischen Gemeinde und Hierarchie macht das Glaubenssystem fast bedeutungslos, obwohl es für die Gemeindemitglieder das Wichtigste zu sein scheint. Die gemeinsamen Aktivitäten, das Singen und Beten, die individuelle Hingabe, die alle teilen, schenkt den Gemeindemitgliedern das warme Gefühl der Zugehörigkeit. Von außen erscheint jede dieser Glaubensgemeinschaften als schöne Harmonie, abgesehen von gelegentlichen Misshelligkeiten wegen Homosexuellen oder Priesterinnen. Kein Wunder, dass da kein Platz für Rationalität ist.
Psychologen untersuchen seit Jahrzehnten religiöse Glaubensvorstellungen, nicht um die Existenz irgendeiner besonderen Spielart von Gottheit zu beweisen oder zu widerlegen, sondern um herauszufinden, was im Geist von Gläubigen vor sich geht. Manche sind zu dem Schluss gelangt, dass Glaube an das Übernatürliche eine mehr oder weniger zwangsläufige Folge von evolutionärem Überlebenswert ist (was, wenn es zuträfe, eine ironische Entdeckung wäre), weil er menschliche Kulturen zusammenhält. Erst jüngst ist einigen wenigen Psychologen aufgegangen, dass die Denkprozesse von Atheisten vielleicht auch erforscht werden müssten, da diese eine ziemlich große Gruppe bilden, die gegen den vermuteten Evolutionsdruck immun zu sein scheint. Gläubige und Ungläubige zu vergleichen, dürfte mehr Licht auf beide Lager werfen.
Selbst wenn Religion und andere Arten von Glauben an das Übernatürliche tatsächlich eine natürliche Folge der früheren Menschheitsgeschichte sein sollten, von der Evolution in unsere Denkvorgänge eingebaut, gibt es keinen zwingenden Grund, weiterhin auf diese Weise zu denken. Unsere sporadische Tendenz zur Gewalttätigkeit, insbesondere gegeneinander, kann in ähnlichen Begriffen erklärt werden, doch die weitverbreitete (und sinnvolle) Ansicht lautet, dass dies keine Entschuldigung für gewalttätiges Verhalten ist. Ein wahrer Mensch sollte imstande sein, derlei in ihm verwurzelte Triebe durch einen Willensakt zu überwinden. Das Gleiche lässt sich vom Glauben ans Übernatürliche sagen: Indem wir unsere Intelligenz üben, können wir uns antrainieren, Behauptungen keinen Glauben zu schenken, für die es keine klaren Beweise gibt. Natürlich denken Gläubige, es gebe Beweise – jedenfalls genug, um sie zu überzeugen –, doch diese sind zumeist obskur und stark von Interpretation abhängig.
Ein lehrreiches Beispiel für den Einfluss religiösen Glaubens auf rationales Urteilsvermögen ereignete sich 2012, als Sanal Edamaruku, der Gründer der Rationalistischen Internationale und Präsident der Indischen Rationalisten-Vereinigung (Indian Rationalist Association), eingeladen wurde, ein Wunder zu untersuchen. Das Folgende basiert auf einem Interview, welches Edamaruku im New Scientist veröffentlichte, und wir berichten, was dort mitgeteilt wurde.* [* One minute with Sanal Edamaruku. In: New Scientist (30. 6. 2012), S. 27. Siehe auch http://en.wikipedia.org/wiki/Sanal_Edamaruku.]
Das Wunder ereignete sich in einer katholischen Kirche in Mumbai, wo spontan Wasser von den Füßen einer Christusstatue am Kreuz tropfte. Dieses Ereignis wurde als göttliches Zeichen interpretiert – als heiliges Wunder –, und Scharen von Gläubigen kamen zusammen und tranken das Wasser, anscheinend in dem Glauben, es sei heiliges Wasser und könne alle Arten von Krankheiten heilen. Ein Fernsehsender bat Edamaruku um einen Kommentar, und im Einklang mit seiner Stellung wies er die Behauptung zurück, es handle sich um ein Wunder. Da seine Meinung zu diesem Zeitpunkt lediglich Ansichtssache war, forderte die Fernsehgesellschaft ihn auf, einen wissenschaftlichen Beweis zu führen. Dazu musste er natürlich die Kirche besuchen und die Sache in Augenschein nehmen.
Die Kirchenoberen erteilten ihre Zustimmung. Nicht lange, und die Ursache des »Wunders« war gefunden. Ein Abwasserkanal von einem Waschraum führte hinter der Betonplatte entlang, an der das Kreuz befestigt war. Ein kurzer Blick auf den Abfluss zeigte, dass er verstopft war. Die Wände hinter dem Kreuz und das hölzerne Kreuz selbst saugten sich durch Kapillarwirkung mit dem Abwasser voll. Ein Teil des Wassers trat durch ein Nagelloch aus und rann über die Füße der Statue abwärts. Edamaruku machte Fotos, um den Fall zu dokumentieren.
Punktgewinn, werden Sie glauben. Nun ja, aber … Edamaruku war religiösen Gruppen seit Langem ein Dorn im Auge, und seine Entdeckung löste
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