Das Känguru-Manifest
ich also im Bahnhof Friedrichstraße auf der Rolltreppe. So in der Mitte ungefähr. Dann hörte die Rolltreppe plötzlich auf zu rollen, und ich dachte: ›Scheiße! Wie komm ich denn jetzt hier runter?‹«
»Hm«, sagt das Känguru.
»Das ist auch eine Geschichte, die das Leben geschrieben hat«, sage ich.
»Zweifelsohne«, sagt das Känguru.
»Ist doch okay«, sage ich. »Kann man mal erzählen.«
»Ja, aber man würde sich nicht unbedingt einen Film darüber ankucken wollen«, sagt das Känguru.
»Aber wenn man den Film in 3D dreht, wäre er bestimmt trotzdem total erfolgreich«, sage ich. »Und weißt du, was das eigentlich Krasse an der Geschichte ist?«
»Nee.«
»Die ganze Zeit, die ich auf der Rolltreppe stand, war mir nicht klar, dass ich keine Strümpfe anhatte.«
»Pentizikulös«, sagt das Känguru.
»Wie bitte?«, frage ich.
»Das ist ein neues Wort, das ich mir ausgedacht habe.«
»Was bedeutet es?«
»Es bedeutet: Wenn du noch einmal deine Strümpfe erwähnst, vergesse ich mich und esse den ganzen Vanillejoghurt auf, ohne dir etwas abzugeben.«
»Ein Wort, das man nur selten gebrauchen kann«, sage ich.
»Ja«, sagt das Känguru. »Aber hier passt es.«
Wir stehen neben einer modernen Litfaßsäule – einer Litfaßsäule, die sich um sich selber dreht. Eine Litfaßsäule, die es einem ermöglicht, ohne sich von der Stelle zu rühren, alle drei darauf angebrachten Plakate zu begutachten. Es ist dreimal das gleiche Plakat.
»Das muss dieser Fortschritt sein, von dem immer alle reden«, sage ich.
Auf dem Plakat der Initiative Für Mehr Arbeit sieht man einen adrett lächelnden, jungen Mann mit Migrationshintergrund, der auf einer Großbaustelle steht, und der große, dicke, deutsche Vorarbeiter kneift ihm kumpelhaft in die Wange. Unter dem Bild steht: »Wir haben uns alle lieb – im Betrieb.«
Ich schüttle mich.
»Wie du ja weißt, bin ich einer der weltweit berühmtesten unbekannten Künstler im Genre, das neuerdings als Street Art gehyped wird«, sagt das Känguru.
»Wer weiß das nicht«, sage ich.
»Und jetzt habe ich mir den neuesten Schrei einfallen lassen.«
»Man schreibt irgendwo seinen Namen hin«, sage ich, »und dahinter schreibt man: ›war hier‹?«
»Nein. Falsch zugeordnete Zitate.«
»Zum Beispiel?«
Das Känguru schüttelt seine Spraydose und schreibt auf die Litfaßsäule: »Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Frage, was du für dein Land tun kannst. Kim Jong-il.«
Ich muss lachen.
»Es ist ganz erstaunlich«, sagt das Känguru, »was eine veränderte Zuschreibung der Autorschaft aus den Zitaten macht.«
»Mehr Beispiele.«
»Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht«, sagt das Känguru. »Roland Koch.«
»Mister Gorbatschow, tear down this wall!«, sage ich. »David Hasselhoff.«
»Ich denke, also bin ich«, sagt das Känguru. »Til Schweiger.«
Wir gehen ein paar Schritte weiter, und das Känguru sprüht an die Wand einer Bankfiliale: »Hasta la victoria siempre! – John D. Rockefeller.«
»Da hat das rote Pferd sich einfach umgekehrt und hat mit seinem Schwanz die Fliege abgewehrt«, sage ich. »Johann Wolfgang von Goethe.«
»Jup«, sagt das Känguru.
»Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß. Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren, und auf den Fluren lass die Winde los«, sage ich. »H.P. Baxxter.«
»Ich sehe, du hast es verstanden.«
»Der Vorteil der Klugheit besteht darin, dass man sich dumm stellen kann. Das Gegenteil ist schon schwieriger«, sage ich. »Bastian Schweinsteiger.«
»Hör jetzt auf«, sagt das Känguru.
»Alles, was wir sind, ist das Resultat von dem, was wir gedacht haben«, sage ich. »Bastian Schweinsteiger.«
»Ich hätte dir nicht davon erzählen sollen.«
»How much is the fish?«, sage ich. »Karl Marx.«
Das Känguru seufzt.
»Heinrich, mir graut’s vor dir«, sage ich. »Thomas Mann.«
»Bitte …«
»Wenn man ein 0:2 kassiert, dann ist ein 1:1 nicht mehr möglich«, sage ich. »Satz des Pythagoras.«
Wir stehen in einem Saal mit dem Charme einer Großraumdisco und warten auf den Beginn der Gala zur Verleihung des Deutschen Buchpreises der Ullstein Buchverlage. Das Känguru hat einem Kellner das komplette Tablett mit Häppchen abgenommen und schnabuliert fröhlich vor sich hin. Ich blicke durch die Gegend und fühle mich unwohl.
»Halli-Hallo! Ich bin Julia Müller«, dringt plötzlich eine voluminöse Frauenstimme an mein Ohr. »Und Sie sind bestimmt
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