Das Känguru-Manifest
Kai-Uwe Kling.«
»Er heißt Marc-Uwe«, sagt das Känguru, ohne seinen Blick vom Tablett zu nehmen, wo es sich gerade ein neues Häppchen aussucht. »Er hasst es, wenn man ihn Kai-Uwe nennt.«
»Kai-Uwe hat immer mein Musiklehrer gesagt«, sage ich grummelnd. »Ich habe ihm das nur verziehen, weil er Gerd-Dieter hieß.«
»Ahahahamuhmuhmuh«, lacht Julia Müller prustend.
Das Känguru blinzelt.
»La vache qui rit«, sagt es erstaunt.
»Ahahamuhmuh … äh … wie bitte?«, fragt Frau Müller.
»Die Kuh, die lacht«, sagt das Känguru und blickt ihr ins Gesicht.
»Meinen Sie etwa mich«, fragt die Moderatorin. Ihr Gesichtsausdruck mäandert zwischen irritiert und empört. Das Känguru hält die Spannung, bis sie fast unerträglich ist, dann sagt es mit Unschuldsmiene: »Der Käse auf den Schnittchen … Auch eins?«
»Ahahamuhmuhmuh«, lacht die gute Julia wieder, nimmt ein Gürkchen von einem Schnittchen und verschwindet.
»La vache qui rit«, sage ich nickend. »Chapeau, mein liebes Känguru! Sehr schön.«
Wir haben einen Wettbewerb laufen, wer am besten Leute beleidigen kann, ohne dass sie es merken.
»Danke, danke!«, sagt das Känguru und isst das letzte Häppchen vom Tablett.
»Ich würde sagen, mindestens fünf Punkte«, verkünde ich.
Das Känguru zieht unsere Spielstandstabelle aus seinem Beutel. Es liegt komfortabel in Führung.
»Halt mal kurz«, sagt es und reicht mir das leere Tablett.
Ich greife zu.
»Verdammt«, sage ich sofort danach. »Ich bin auf ein Halt-mal-kurz reingefallen.«
»Der älteste Trick der Welt, Alter!«, sagt das Känguru kopfschüttelnd.
»Wie ärgerlich.«
»Übrigens: Wenn du es vermeiden kannst«, sagt das Känguru, »dann schüttle diesem Typen dahinten nicht die Hand.«
»Wer ist das?«
»Das ist ein Bankdirektor, der …«
»Okay.«
»Was okay?«
»Na, das reicht mir schon«, sage ich. »Das kann ich als Grund akzeptieren.«
»Sein Zwillingsbruder ist Asylrichter und will eine neue nationalkonservative Partei gründen …«
»Hui! Das klingt ja nach ’ner sympathischen Familie. Wer war der Vater? Axel Springer?«
»Du hast bestimmt schon von den Brüdern gehört«, sagt das Känguru. »Der Asylrichter ist durch seine Ablehnungsquote von 100 Prozent bekannt geworden. Die Boulevardpresse hat ihn als ›Richter Schadenfroh‹ gefeiert, weil er immer so hämisch lacht, bevor er die Leute zurück aufs Floß schubst.«
»Ah! Na klar! Jörg Dwigs«, sage ich.
»Und das dahinten ist sein Zwillingsbruder Jörn«, sagt das Känguru. »Der finanziert ihm den Wahlkampf.«
»Ja, ja. Das ist doch auch der Typ, der letztens seine 95 Thesen über Migration an die Pforte der Moschee in Neukölln genagelt hat.«
»Sein Buch ist bestimmt nominiert in der Kategorie: ›An deutschen Thesen soll die Welt genesen‹«, sagt das Känguru.
»Eher am deutschen Tresen«, sage ich.
»Wie heißt das Buch noch mal?«
»Ich glaube ›Mein Krampf‹.«
»Da gibt es mal wieder eine große internationale Systemkrise«, sagt das Känguru kopfschüttelnd, »und dann kommt einer an – noch dazu ein Banker – und sagt: ›Schuld haben nicht etwa die Politiker, die Banker, die Lobbyisten oder der Kapitalismus … Nein! Schuld haben‹ – Achtung! – ›DIE AUSLÄNDER!‹ Na klar. Juchhe! Voll die neue Idee! Und der ganze Pöbel ruft: ›Ja, das habe ich mir schon immer gedacht. Die sehen ja schon so komisch aus, und die reden so seltsam, und die mögen keine Leberwurscht!‹«
Jörn Dwigs macht sich, von meinem Agenten flankiert, auf den Weg in unsere Richtung.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sage ich.
»Marc-Uwe! Darf ich vorstellen«, sagt mein Agent. »Das ist Jörn Dwigs.«
»Ich bin ein großer Freund und Förderer der deutschen Kunst und Kultur«, sagt Dwigs und streckt mir seine Hand entgegen.
Ich zucke mit den Schultern und deute mit der Nase auf das Tablett, das ich krampfhaft mit beiden Händen festhalte. Er zieht seine Hand zurück. Dem Känguru hat er sie nicht angeboten. Das Känguru streckt ihm daraufhin seine Pfote hin, und als Dwigs sie widerwillig ergreifen möchte, zieht das Känguru seine Pfote zurück und streicht sich das Fell auf dem Kopf zurecht. Dann zwinkert es. Und lächelt. Auch Dwigs zwingt sich zu einem Lächeln. Ich drücke meinem Agenten das Tablett in die Hand.
»Halt mal kurz«, sage ich.
»Herr Dwigs wurde gestern auf dem Gründungs-Parteitag der SV zum zweiten Vorsitzenden gewählt«, sagt mein Agent.
»SV steht für Sicherheit
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