Das Känguru-Manifest
und Verantwortung«, erläutert Dwigs ungefragt.
»Ich hätte jetzt gedacht, SV steht für Schlussverkauf«, sage ich.
»Wie meinen?«, fragt Dwigs.
»Das wäre doch sehr passend«, sage ich. »Wo das Motto der Partei schon ›Alles muss raus‹ lautet.«
»Ha, ha, ha«, lacht mein Agent gezwungen. »Alter Scherzkeks!«
Dann wendet er sich an Dwigs und reicht ihm das Tablett.
»Könnten Sie das bitte kurz mal halten?«
Während Dwigs von einem Neuankömmling begrüßt wird, zieht mein Agent mich und das Känguru zur Seite.
»Man sollte sich solche Leute nicht zum Feind machen«, sagt er. »Man weiß nie, wie es kommt. Laut einer Umfrage der Bildzeitung käme die SV bei einer sofortigen Wahl aus dem Stand auf 18 Prozent.«
»Was haben die nur immer mit 18 Prozent?«, fragt das Känguru. »Immer wenn sie irgendeine schockierende Umfrage über eine extremistische Partei präsentieren, nehmen sie 18 Prozent. Ich muss pissen«, und es verschwindet in die Menschenmenge.
Als das Känguru eine halbe Stunde später wieder auftaucht, ist die Gala in vollem Gange. Es hat ein neues Tablett Häppchen dabei, grinst und setzt sich zu uns an den Tisch.
Plötzlich steht Dwigs vor uns. Ein leeres Tablett klemmt unter seinem Arm. Er zischt das Känguru an: »Wahrscheinlich glauben Sie, wir werden nie an die Macht kommen, aber …«
»Na ja«, unterbricht ihn das Känguru. »Marx hat ja mal gesagt: ›In der Weltgeschichte passiert alles zweimal: Das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.‹«
Es zieht die Spielstandstabelle aus dem Beutel und gibt sich noch zwei Punkte.
»Selbst wenn wir nicht an die Macht kommen …«, sagt Dwigs, »wir werden durch unsere Thesen die öffentliche Debatte so weit nach rechts verschieben, dass …«
Das Känguru streckt Dwigs seine Pfote entgegen und sagt: »Talk to the paw.«
Dwigs stürmt wütend aus dem Saal und wirft am Ausgang das Tablett in eine Ecke.
»Huiuiui«, sagt mein Agent kopfschüttelnd. »Wer hat dem bloß ans Bein gepinkelt?«
Das Känguru reibt sich seine Nase.
»Das war dann wohl ich«, sagt es.
»Ach?«, fragt mein Agent. »Was haben Sie denn gemacht?«
»Na, ich habe ihm ans Bein gepinkelt.«
»Wortwörtlich?«, frage ich.
»Ich hab doch gesagt, ich geh pissen«, sagt das Känguru. »Du weißt doch, ich nehme da an diesem Kunstprojekt
teil … Mit den angewandten Redewendungen. Und die Gelegenheit war günstig. Ich stand zufällig hinter ihm.«
»Soso«, sage ich. »Zufällig …«
»Da kann man jetzt natürlich darüber streiten, ob das eine wirklich dauerhafte Lösung des Problems war«, sagt das Känguru, »aber für diesen einen kleinen Moment war’s großartig.«
Mein Agent stupst mich an, und wir wenden uns der Bühne zu.
»Und der Deutsche Buchpreis der Ullstein Buchverlage in der Kategorie ›Buch mit sprechendem Tier‹ … ahahamuhmuhmuh … geht dieses Jahr an …«, Julia Müller macht eine spannungsreiche Pause und öffnet das Kuvert. Dann ruft sie: »Marc-Dieter Kling!«
Fassungslos starre ich auf die Bühne.
Das Känguru klopft mir aufmunternd auf die Schulter.
»Was soll ich denn jetzt machen?«, frage ich.
»Sag, was ich sagen würde«, sagt das Känguru.
Ich nicke. Ich stehe auf. Ich betrete die Bühne. Ich nehme den Preis vom Rednerpult und drücke ihn Julia Müller in die Hand.
»Halt mal kurz.«
Ich stelle mich vors Mikrofon und suche den Blick des Kängurus. Es nickt mir zu.
»Ich lehne diesen Preis ab«, rufe ich, »… weil es kein Geld dafür gibt!«
»Ich bin total willig«, sagt das Känguru. »Ich möchte unbedingt ’nen Job.«
»Warum?«, fragt die Frau vom Jobcenter.
»Es hat Angst, zu den unnützen Ausländern gesperrt zu werden«, sage ich.
»Nee«, sagt das Känguru. »Ich hab kein Geld.«
»Das hat dich doch bisher auch nicht gestört …«, sage ich.
»Ja, aber jetzt stört es mich.«
»Haben Sie denn schon mal eine feste Arbeitsstelle gehabt?«, fragt die Frau gelangweilt.
»Eine?«, fragt das Känguru. »Tausende! Ich stand schon in einer riesigen Erdbeere und habe Erdbeeren gegessen. Ich bin als Grillwalker mit einer Gasflasche auf dem Rücken und einem Grill vor dem Bauch über den Alexanderplatz gestiefelt und habe Würstchen gegessen. Ich habe in einem schönen Sommer viele Konzerte in der Wuhlheide angekuckt, mit einem Fass auf dem Rücken, an dem ein Schlauch dran war, und daraus habe ich Bier getrunken. Gute Jobs eigentlich. Ich habe es aber leider nie über die Probezeit
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