Das Känguru-Manifest
gleichen Bauplan«, sagt das Känguru nach einer Weile. »Dadurch kann sich der Soldat, unabhängig davon, wo er sich auf der Welt befindet 36 , sofort orientieren: ›Da vorne ist die Latrine, dahinten das Lazarett, und in dem dunklen Keller, wo man die Schreie hört, darf ich keine Fotos machen.‹ Diesem Prinzip folgend werden nun alle Innenstädte gleichgeformt, damit der Kunde sich sofort zurechtfindet, wenn er in Urlaub fährt oder wenn ihn der flexible Arbeitsmarkt mal wieder von A nach B vermittelt hat.«
»Soso.«
»Man unterscheidet im wissenschaftlichen Diskurs ja zwischen zwei Phasen der Entstehung von Nicht-Orten«, sagt das Känguru. »Die sogenannte Schleckerisierung und das Starbugging.«
In einer Ecke des Cafés sitzt der Pinguin, liest Focus Money und schmiert sich heimlich Teewurst auf seinen Bagel. Dabei telefoniert er, genau wie ein Dutzend anderer Cafébesucher, über ein kabelloses Headset.
»Meinste, manche von denen telefonieren miteinander?«, frage ich.
»Vielleicht haben sie keinen Tisch zusammen gekriegt«, sagt das Känguru.
»Diese Leute sind die ersten Cyborgs«, sage ich fasziniert.
»Bliep. Bliep«, sagt das Känguru abgehackt. »Ich ar – bei – te gern für mei – nen Kon – zern. Blieb. Blieb.«
»Blieb. Blieb. Ich – bin – nur – froh – im – Büro«, sage ich. »Blieb. Blieb.«
»Un – ser Ak – ku ist al – le. Blieb. Blieb«, sagt das Känguru. »Wir ha – ben al – le ei – nen Burn-out. Blieb. Blühühp.«
Das Känguru schließt die Augen und lässt den Kopf fallen.
»Also wenn du mich fragst«, sage ich. »Dann ist …«
Plötzlich drehen sich ein Dutzend Cyborg-Köpfe zu mir. Sie sprechen im Chor, und ich lese auf ihren Lippen: »Wir fragen dich nicht.« Ein roter Laserstrahl zielt von ihren Implantaten direkt auf mich. »Wir sind die Borg. Sie werden assimiliert werden.«
Ich stupse das Känguru an. Es öffnet die Augen.
»Was ist los?«, fragt es. »Ich war gerade auf Stand-by.«
»Was machen wir denn jetzt dagegen?«, frage ich.
»Mir fällt nichts dazu ein«, sagt das Känguru.
»Das ist wahrscheinlich das Bezeichnende an Nicht-Orten«, sage ich, »dass einem nichts dazu einfällt.«
»Ja«, sagt das Känguru. »Man wird selten gefragt: ›Na, wie war’s gestern auf der Autobahnraststätte?‹ Was soll man auch groß antworten.«
»Ich hatte ja gestern ’nen wirklich tollen Tag auf dem Flughafen«, sage ich.
»Heute hat’s mal richtig gut geschmeckt bei McDonald’s«, sagt das Känguru.
»Also, die neue H&M-Filiale …«, sage ich. »Die ist wirklich was Besonderes.«
»Ich hatte schon vor einiger Zeit eine Idee für einen Anti-Terror-Anschlag«, sagt das Känguru. »Man müsste nachts an allen großen Bahnhöfen Deutschlands die Schilder übermalen. Aus Berlin Hamburg machen, aus München Leipzig, aus Dresden Köln.«
»Klingt lustig«, sage ich. »Warum hast du das nicht bei der Vollversammlung vorgeschlagen?«
»Ich hatte Angst, dass es am Ende keiner bemerkt.«
36 Das hat den gar nicht zu interessieren! Anm. des Kängurus
Ich gähne, reibe mir die Augen und nehme einen großen Schluck Kaffee. Das Radio läuft.
»Aufgrund der vielen positiven Erfahrungen mit der Kategorisierung von Ausländern« , sagt der Nachrichtenmann, »erwägt das Ministerium für Produktivität offenbar die Einteilung in produktiv bzw. unproduktiv auch für alle anderen einzuführen. Ein Ministeriumssprecher sagte dazu: ›Wir wissen noch nicht genau, was wir mit den Daten schlussendlich anfangen. Aber was man hat, das hat man.‹ Ein Datenschutz-Experte, der anonym bleiben möchte (es handelt sich um Winston Schmied, wohnhaft in der Karl-Marx-Straße 23 in 12043 Berlin. Telefonnummer: 030/31415926. 42 Jahre. Fünf Punkte in Flensburg. Drei negative Einträge bei der Schufa. Kunde der Deutschen Bank. Kontonummer: 4815162342. Pin-Nummer 12345. 529 Facebook Freunde. Laut einer Pressemitteilung von Google wurden am 29. Februar 2007 von seiner IP-Adresse aus die Worte ›Giant Black Cocks‹ gesucht), meldete leichte Bedenken an. Ein Sprecher des Ministeriums für Produktivität bezeichnete die Kritik allerdings sofort als unproduktiv.«
Ich gähne.
Das Känguru schaltet das Radio aus.
»Sag mal, wurdest du eigentlich antiautoritär erzogen?«, frage ich.
»Wie kommst du drauf?«, fragt das Känguru und nimmt die Zunge aus dem Marmeladenglas.
»Ach. Nur so.«
»Hm«, sagt das Känguru und stellt das noch fast volle Marmeladenglas zurück auf
Weitere Kostenlose Bücher