Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc-Uwe Kling
Vom Netzwerk:
über meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede.«
    Der andere Gehilfe schob das K. ins Wartezimmer. Das Wartezimmer war ein großer hallenartiger Raum mit einem Kuppeldach. Eine große Uhr hing in der Mitte des Raumes von der Kuppel herab. Sie war stehengeblieben. Auf den Stühlen, auf den Tischen, auf dem Boden saßen Menschen. Viele mit Gepäck. Andere wuselten um sie herum. Scheinbar beschäftigt. Direkt vor dem K., an einem Schreibtisch, saß ein kleiner, dicker Mann mit Halbglatze. Seinem Gebaren nach ein hoher Beamter.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte der Mann. »Sie gehören nicht hierher.«
    »Aber man hat mich in die DDR als Vertragsarbeiter bestellt«, behauptete das K.
    Natürlich war es zumindest formale Pflicht, die Behauptung nachzuprüfen und sich in der Zentralkanzlei zu erkundigen, ob ein Vertragsarbeiter dieser Art wirklich bestellt worden sei. Der hohe Beamte telefonierte.
    »Von dieser DDR hat hier noch nie jemand gehört«, sagte er.
    »Es gab da Behörden, in denen hätte es Ihnen sicherlich gefallen«, sagte das K.
    »Sie sind hier, weil Sie als unproduktiv registriert werden sollen«, sagte der Gehilfe.
    »Ja, ich bin fast beschäftigungslos«, sagte das K., und obgleich es sofort das Gefühl bekam, dass es besser geschwiegen hätte, fuhr es fort, »bin müde, habe Verlangen nach immer vollständigerer Beschäftigungslosigkeit.«
    »Sie haben die Möglichkeit, bei den Kontrollbehörden eine Berufung gegen Ihre Registrierung einzureichen«, sagte der hohe Beamte. »Freilich sind die Kontrollbehörden nicht dazu bestimmt, Fehler im groben Wortsinn herauszufinden, denn Fehler kommen ja nicht vor, und selbst wenn einmal ein Fehler vorkommt, wer darf denn endgültig sagen, dass es ein Fehler ist?«
    »Mein Ehrgeiz geht nicht dahin, große mich betreffende Aktensäulen entstehen und zusammenkrachen zu lassen, sondern als kleines Beuteltier in meiner WG ruhig in einer Hängematte zu liegen«, sagte das K.
    Hinten in der Ecke des Wartezimmers stand plötzlich ein alter Mann in einem verstaubten Mantel auf und räusperte sich.
    »Ruhe!«, rief der hohe Beamte, und die Menge verstummte. »Ruhe!«
    »001110100010110100101000«, sagte der alte Mann leise und setzte sich wieder.
    »Ich verstehe nicht«, sagte das K.
    »Niemand hier versteht ihn«, sagte der Gehilfe. »Wir sind aber der Meinung, es ist sehr wichtig, was er sagt.«
    »Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass diese Untersuchungen regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so doch häufiger einander folgen werden«, sagte der hohe Beamte. »Ich setze voraus, dass Sie damit einverstanden sind.«
    »Ich sage nicht, dass es ein liederliches Verfahren ist«, sagte das K., »aber ich möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«
    »Eine Abschiebung ist im Übrigen nicht die einzige Möglichkeit«, sagte der hohe Beamte.
    »Sie können auch auswandern«, sagte der Gehilfe.
    »Auswandern kann ich nicht«, sagte das K., »ich bin hierhergekommen, um hier zu bleiben. Ich werde hierbleiben.« Und in einem Widerspruch, den es gar nicht zu erklären sich Mühe gab, fügte es wie im Selbstgespräch hinzu: »Was hätte mich denn in dieses öde Land locken können, als das Verlangen hierzubleiben?«
    »Der Nächste!«, rief der Gehilfe.
    Das K. verließ das Wartezimmer durch die Tür, durch die es hereingebracht worden war. Es befand sich nun aber in einem ihm völlig unbekannten Teil des Gebäudes. Eine unerklärliche Kälte umfing das K. In einer langen Reihe von großen, grauen Spinden standen Männer in grauen Anzügen und schliefen im Stehen. Dabei rauchten sie Zigarre. Einer wachte auf, als das K. vorbeikam, öffnete die Augen und lächelte das K. an. »Bis bald«, flüsterte er und streichelte dem K. über den Kopf. Das K. begann zu rennen. Am Ende des Korridors hörte das K. hinter einer Tür ein Zischen. Es blieb erstaunt stehen und horchte noch einmal auf, dann aber fasste es eine derart unbezähmbare Neugierde, dass es die Tür förmlich aufriss. Es war eine Rumpelkammer. Ächzende alte Nadeldrucker, Lochkartencomputer und Röhrenmonitore lagen hinter der Schwelle. In der Kammer selbst aber stand ein Mann in Unterwäsche, gebückt in dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal festgemachte Kerze gab ihm Licht. Vor ihm stand ein Bügelbrett, und darauf lag ein grauer Anzug. Das Bügeleisen zischte.
    »Was treiben Sie hier?«, fragte das K., sich vor Aufregung überstürzend, aber nicht

Weitere Kostenlose Bücher