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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Leute, meine ich. Nicht die flauschigen Kameraden.
     
    Echo Lawrence: Fragen Sie Irene Casey doch mal nach der Wand in Rants Zimmer. Am Ende hat sie eine Tapete drübergeklebt. Für sie waren die Popel schlimmer als Asbest.
    Auch als er erwachsen war und eine eigene Wohnung hatte, auch da war die Wand am Kopfende seines Betts nichts, was man unbedingt hätte anfassen wollen.
     
    Irene Casey (

Rants Mutter): Soweit ich mich erinnere, haben wir Buddys Zimmer tapeziert, als er drei oder vier Jahre alt war. Eine Tapete mit lassoschwingenden Cowboys, dazwischen Kakteen, der Hintergrund schokoladenbraun, da sieht man den Schmutz nicht so schnell. Schrecklich dunkel, aber für ein Jungenzimmer ganz praktisch.
    Das mit den Popeln an der Wand war danach vorbei. Buddy war ein niedliches Kind. Ein richtiger kleiner Engel. Es stimmt, wir haben Sterne an die Decke geklebt, diese Aufkleber, die im Dunkeln leuchten, kleine Cowboys unter Sternen. Das war tatsächlich so, aber der Rest ... Ich würde mein Kind niemals ein Ungeheuer nennen, oder einen Fluch des Teufels, niemals.
    Und Buddy hätte niemals irgendwem solche Geschichten erzählt.

5
Unsichtbare Kunst
     
    Bodie Carlyle (

Freund aus Kindertagen): Schon mehrere Wochen vor Ostersonntag roch man den Essig an Mrs. Caseys Händen, schlimmer als wenn sie Gurken einlegte. Mrs. Casey hatte immer einen Topf Wasser am Kochen. Erst für hartgekochte Eier. Dann noch einen Topf mit Wasser und Essig und irgendwelchem zerhackten Zeugs, in dem die Eier gefärbt wurden.
    Die Caseys lebten zwar auf dem Land, aber die Hühner kauften sie schon geschlachtet. Das Schlimmste, was man Leuten hier aus der Gegend nachsagen kann, ist, dass sie Eier kaufen, aber Mrs. Casey tat genau das, sie kaufte die Eier. Nur weiße. Von Leghornhühnern. Hauptsächlich zu Ostern.
    Trat man durch die Fliegentür in die Küche der Caseys - quietsch ... tock-, saß da Mrs. Casey, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Die Lesebrille auf der Nasenspitze. Den Kopf nach hinten geneigt. Mitten auf dem Tisch eine weiße Kerze, dick wie die in der Kirche, mit Vanillearoma. Um die Kerzenflamme ein kleiner Teich aus geschmolzenem Wachs. Mrs. Casey hatte eine Sticknadel in das Wachs getaucht, in der anderen Hand hielt sie ein weißes Ei, senkrecht zwischen Zeigefinger und Daumen, damit sie es drehen kann, und mit dem flüssigen Wachs schrieb sie etwas auf die Schale.
    Man konnte nicht anders, als gebannt hinstarren.
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms (

Historiker): Junge Leute hängen Spiegel in ihren Wohnungen auf. Ältere Menschen Gemälde. Die Bewohner ländlicher Gemeinden, falls mir diese kleine Bemerkung gestattet ist, stellen in ihren vier Wänden ihre Handarbeiten aus - jene zweifelhaften Resultate von zu viel freier Zeit, begrenzten feinmotorischen Fähigkeiten und billigem Garn.
     
    Bodie Carlyle: Nur Mrs. Casey konnte erkennen, wo das weiße Wachs auf dem weißen Ei verschwand, unsichtbar wie Geheimtinte.
    Auf dem Herd drängten sich die Töpfe, und aus jedem stieg ein anderer Geruch. Zwiebeln. Rote Beete. Spinat. Der Gestank von Rotkohl. Schwarzer Kaffee. Dazu der Essiggeruch. In jedem Topf eine andere Farbe: Gelb, Rot, Grün, Blau oder Braun. Alles zur Farbe von Kochwasser heruntergekocht. Kein Mittagessen fertig.
    Sie schielte, wenn sie an ihrer Nase entlang sah, so sehr war sie auf das Wachs konzentriert, und ihr an allen Tagen mit rotem Lippenstift angemalter Mund stand offen. Sie blickte nicht auf, wenn sie sagte: »Falls ihr zwei Teer kaut, spuckt es aus.« Sie sagte: »Über dem Herd ist noch Knäckebrot.«
    Ich und Rant.
    Wenn man lange genug dort stand, erklärte sie vielleicht noch, da, wo das Wachs sei, nehme das Ei keine Farbe an. Vor ihr in einem Bottich lagen hartgekochte Eier, die noch weiß aussahen, in Wirklichkeit aber waren sie mit Mustern übersät, wo keine Farbe hinkonnte. Wenn man ihr zusah, konnte man glatt vergessen, dass draußen ein Ameisenhügel auf einen wartete. Oder ein toter Waschbär. Oder sogar eine Schachtel Streichhölzer.
    Selbst wenn man hungrig aufs Mittagessen wartete, sah man neugierig zu, wie Mrs. Casey diese Eier bearbeitete.
     
    Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Faszinierend, dass in so vielen Kulturen eine aufwendige und doch vergängliche Kunstform als spirituelles Ritual, wie ein Gebet oder eine Meditation, betrieben wird.
     
    Bodie Carlyle: Die Ellbogen auf dem Tisch, mit einer Hand die Sticknadel in das Wachs tauchend, in der

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