Das Kainsmal
anderen Hand ein Ei, sagt Mrs. Casey eines Tages, ohne Rant und mich anzusehen: »Nehmt euch ein Ei oder verschwindet.« Sie sagt: »Ihr macht mich nervös.«
Mrs. Casey gab jedem von uns eine Nadel und ein kaltes hartgekochtes Ei und schärfte uns ein, nur nicht am Tisch zu wackeln. »Denkt euch ein Muster aus«, sagte sie. Und dann zeigte sie uns, wie man die Nadel in die Kerze taucht und einen klaren Wachstropfen auf die Schale eines gekauften Leghorneis befördert. »Zeichnet euer Muster mit der Nadel«, sagte sie. Einen Tropfen nach dem anderen. Weiß auf Weiß. Unsichtbar. Ein Geheimnis.
Rant sagt: »Sag mir was. Mir fällt nichts ein, was ich zeichnen könnte.«
Und seine Mutter sagt: »Dir wird schon was einfallen.«
Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms: Ob es sich nun um kunstvoll bemalte Eier oder die Sand-Mandalas tibetischer Buddhisten handelt, dahinter steht immer der Wunsch des Menschen, sich voll und ganz auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Ungeachtet der überaus vergänglichen Natur dieses Gegenstands gibt einem der Herstellungsprozess die Möglichkeit, aus der Zeit herauszutreten.
Bodie Carlyle: Rant, ich und Mrs. Casey saßen am Küchentisch, wir drei, um diese Kerze versammelt, deren kleine Flamme in der Sonne verblasste, die durchs Fenster über der Spüle hereinschien, wir saßen da und malten Sachen, die nur wir selbst sehen konnten, und keiner von uns dachte mehr an seinen Hunger. Für uns existierten nur noch das Wachs und das Ei in unseren Händen. Gemüse und Zwiebeln köchelten in den Töpfen, die Küche war erfüllt von Dampf und Essensgeruch, und doch erschrak keiner von uns, als die Fliegentür aufging - quietsch ... tock - und plötzlich Mr. Casey vor uns stand. »Was gibt's zu Mittag?«, sagt er.
»Wolltest du nicht im Imbiss was essen?«, sagt Mrs. Casey, ohne ihr Ei aus dem schielenden Blick zu lassen.
Rant hielt inne. Er hielt das Ei weiter in der Hand, tauchte aber die Nadel nicht mehr ins Wachs. Rants Hände und Atem standen still.
Ich zeichnete gerade einen Wachstag auf mein Ei, eine Sonne mit Strahlen, einen Baum, mein Haus, eine Wachswolke am Himmel, aber das wusste niemand außer mir.
Und Mr. Casey sagt: »Irene.« Er sagt: »Das ist nichts für den Jungen.«
Und Mrs. Casey sagt: »Du hast mir gesagt, du gehst im Imbiss was essen.«
Mr. Casey beugt sich über den Herd, hält die Nase in den Dampf über jedem einzelnen Topf, schnüffelt und sagt: »Verdirb ihn nicht.«
Mrs. Casey schielt weiter auf ihr Ei, auf das unsichtbare Geheimnis ihres Musters, und sagt: »Wie bitte?« Rant immer noch wie versteinert.
Und Mr. Casey sagt: »Verdirb mir den Jungen nicht für die Ehe.« Und er griff nach dem Bottich mit Eiern neben ihr auf dem Tisch. Alakellos weißen Eiern, in Wirklichkeit aber verziert mit den unsichtbaren Zeichnungen dieses Vormittags. Die Resultate ihrer unsichtbaren Kunst.
»Nicht die«, sagt Mrs. Casey und blickt jetzt zum ersten Mal über den Brillenrand.
Aber schon sind zwei Eier in Mr. Caseys Hand verschwunden.
Und so laut, wie man nur draußen schreit, schreit Mrs. Casey: »Nicht die!«
Mr. Casey dreht sich zum Fenster um, und - klopf klopf klopf - schlägt er die Eier an der Spüle auf, um sie zu pellen.
Und ich zeichnete einen Wachsvogel an den Himmel, unsichtbar flog er über mein Haus. In den Baum kamen winzige Wachstropfen, das sollten Äpfel sein.
An diesem Mittag erlebte ich zum ersten Mal, wie die Zeit stehen blieb. Rant und seine Mutter wie versteinert, der Schwefelgeruch der Eier, der Geruch von Essig und zerkochtem Gemüse: Eine Woche, ein Sommer, hundert Geburtstage kamen und gingen. Die Sonne stand ein Jahrhundert lang unbeweglich in diesem Fenster über der Spüle.
Sogar die Uhren hielten den Atem an.
Mr. Casey schaute aus dem Küchenfenster und aß die Eier auf, in seinem Schatten war jetzt sogar die Kerzenflamme zu sehen. Der hartgekochte Schwefelgeruch der Eierschalen, die er in den Abfluss geworfen hatte. Er verschlang die zwei Eier, und dann fiel hinter ihm - quietsch ... tock - die Fliegentür zu.
Jetzt rückte die Sonne ein Stück weiter und berührte den Rand des Fensterrahmens. Die Zeit kam wieder in Bewegung. Die Uhr fing wieder an zu ticken.
Sheriff Bacon Carlyle (
Feind von Kindheitstagen): Man sollte Chet Casey nicht die Schuld für die Verbrechen in die Schuhe schieben, die sein Junge begangen hat. Ich sehe das so: Kein Mensch ist zur Liebe geboren. Liebe ist etwas, das man lernen muss.
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