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Das Kainsmal

Titel: Das Kainsmal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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Mutter legt ihren kleinen Buddy ins Bett und gibt ihm einen Kuss, damit er was Schönes traumen kann. Sein rundes Gesicht versinkt im Kissen, die langen Wimpern legen sich auf seine rosa Wangen.
    Auf alten Bildern sieht Irene sehr hübsch aus. Nicht bloß jung, sondern wirklich hübsch, wie man aussieht, wenn sich die Gesichtszüge um Augen und Mund entspannen, wie man aussieht, wenn man den Menschen liebt, der das Foto macht.
    Rants Mutter ist die hübsche junge Mutter, sie ist der Hauch weicher Lippen dicht neben seinem Ohr. Sie ist das geflüsterte »Schlaf gut« mit dem Geruch von Zigaretten. Dem süßen Duft ihres Shampoos. Dem Blütenduft ihrer Hautcreme.
    Ihr Atem sagt: »Du bist Mamis kleiner Schatz.«
    Sagt: »Du bist unser kleiner Engel.«
    Die meisten Mütter sagen solche Dinge, solange sie noch eins sind mit ihrem Kind.
    »Du bist Mamis kleiner Mann ...«
    Dann kommt der Tag, noch lange vor der Sache mit den Augäpfeln, lange vor den Klapperschlangenbissen und den Highschool-Erektionen. Und Rant und seine Mutter werden sich nie mehr so nahe sein wie einst. Werden sich nie mehr so lieben.
    Dieser Tag bedeutet das Ende dessen, was ewig hätte währen sollen.
     
    Dr. David Schmidt (

Arzt in Middleton): Nach meinem Dafürhalten waren die Caseys als Eltern überfordert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sehr junge Eltern ihren Nachwuchs oft entweder nicht ernst nehmen oder als Strafe betrachten. Ein Baby ist einfach da. Es ist kein verchromtes Prestigeobjekt, mit dem man herumkutschieren kann. Ein Baby bringt einem keinen Job an einem Schreibtisch mit Klimaanlage ein.
    Chet Casey betrachtete dieses Baby als seinen schlimmsten Feind und gleichzeitig als seinen besten Freund, beides.
     
    Echo Lawrence: Jedenfalls beugt Rants Mutter sich an diesem Tag über sein Bett. Sie streicht ihm mit einer Hand die Haare aus der kleinen Stirn, seine hellgrünen Augen blicken zu ihr auf, diese Augen, die zu groß sind für sein Gesicht. Diese Augen, die ihre Sterne zählen.
    Rants hübsche junge Mutter richtet sich auf, um in die Küche oder den Garten oder zum Fernseher zu gehen, und plötzlich erstarrt sie. Noch halb übers Bett gebeugt, sieht sie die Wand über seinem Kopfkissen an, kneift blinzelnd die Augen zusammen, um da an der Wand etwas zu erkennen. Ihre Lippen öffnen sich ein wenig. Ihre grauen Augen blinzeln und blinzeln, das hübsche spitze Kinn sinkt ihr auf die Brust. Dann streckt sie eine Hand aus, krümmt einen Finger, um mit dem Fingernagel etwas von dem weißen Anstrich abzukratzen. Die glatte Haut zwischen ihren Augenbrauen faltet sich zu einer tiefen Furche.
    Rant dreht sich in seinem Bett um, verrenkt den Kopf, um nachzusehen, was seine Mutter meint. Seine Mutter sagt: »Was ist das ... ?«
    Und ihr Fingernagel schnippt etwas fort, ein schwarzes Klümpchen, ein weiches rundes Etwas, eine zerdrückte Rosine, die sich von der Wand löst und neben Rants Kopf aufs Kissen fällt. Ein kleiner schwarzer Fingerabdruck neben seinem Gesicht.
    Der Blick der Mutter schweift über die schwarzen Punkte an der Wand, den Halbkreis klebriger Sprenkel um den Kopf ihres Engels.
    Wie Rant zu sagen pflegte: »Manche Leute werden einfach als Mensch geboren. Wir anderen ...?«
    In einer Hinsicht sind wir alle gleich. Wir sehen einmal kurz hin, und schon sehen wir alle getrockneten Rotz. Wir alle wissen, wie klebrig sich das unter Stühlen und Tischen anfühlt.
     
    Curtis Dean Fields (

Pfarrer der Christian-Fellowship-Gemeinde in Middleton): Es gab keine Sünde, die der kleine Rant nicht begangen hätte. Der kleine Buddy hat so viel gesündigt, dass es für eine ganze Familie gereicht hat.
     
    Echo Lawrence: Das ist einer dieser Augenblicke, die einen ein Leben lang begleiten. Eine Szene, die Rant vor Augen sah, als er starb. Die Zeit verlangsamte sich, bremste ab, blieb stehen, fror ein. Die einzige Insel, die man in dem unermesslichen, nebelhaften Ozean seiner Kindheit finden wird.
    In diesem Augenblick verkrampfte sich das Gesicht von Rants Mutter. Statt Haut waren da nur noch Muskeln. Sie zog die Lippen auseinander, so dass jeder einzelne Zahn in voller Länge und auch noch das rosa Zahnfleisch zu sehen war. Ihre Lider zuckten und zitterten, ihre Hände verdorrten zu Krallen und bogen sich auf. In der Ewigkeit dieses Augenblicks beugte sich die hübsche junge Frau über Rants Bett, hielt ihm ihr neues Hexengesicht hin und sagte: »Du ...«
    Sie schluckte, der Kehlkopf in ihrem sehnigen Hals hüpfte auf und

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