Das Kainsmal
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Livia Rochelle (
Lehrerin): Als ich einmal in der fünften Klasse unterrichtete, kam die kleine Elliot mit einer Goldmünze zu mir und fragte, wie viele Tüten Mäusespeck sie dafür bekommen könnte. Wir gingen in die Bücherei und schlugen in einem Münzkatalog nach. Es war eine Zweieinhalb-Dollar-»Liberty Head« von 1858. Auf der Vorderseite, umgeben von dreizehn Sternen, der Kopf einer Frau im Profil mit dem Wort »Liberty« über der Stirn.
Der Wert dieser Goldmünze wurde im Katalog mit fünfzehntausend Dollar angegeben.
Da ich fürchtete, sie habe die Münze gestohlen, fragte ich, wie sie daran gekommen sei. Die kleine Elliot erzählte mir, dass sie die Münze von der Zahnfee für einen ausgefallenen Zahn bekommen habe, und zeigte mir die Lücke. Ein vorderer Backenzahn fehlte, ein Milchzahn.
Bodie Carlyle: Vordere Backenzähne brachten fünf Dollar in Gold. Hintere zehn. Silas Hendersen behauptete, er habe in den Sommerferien zwölf Schneidezähne, neun Eckzähne und sechzehn Weisheitszähne verloren. Einige ältere Schüler verkauften ihre Zähne an Fünftklässler gegen eine fünfzigprozentige Beteiligung an dem Zahnfee-Geld. Andere versuchten es mit Pferdezähnen, Hundezähnen, riesigen Kuhzähnen, die schon bis auf die Wurzeln abgekaut waren. Rant Casey entwickelte sich zu einem wahren Zahnexperten. Konnte Silberfüllung von Amalgam unterscheiden. Einen echten abgebrochenen Zahn von einer ausgebrochenen Krone. Rant hatte haufenweise Zähne in seinem Zimmer, erst in Suppendosen, dann in Zigarrenkisten und Schuhkartons, dann in Einkaufstüten. Das Zahnmuseum von Middleton.
Und da alle in der fünften Klasse reich wurden, fiel es gar nicht auf, dass Rant und ich ebenfalls reich waren. Für jede Gold- oder Silbermünze, die wir einem Kind gaben, behielten wir jeder zwei für uns selbst. Rant behielt doppelt so viel wie ich und gab nur wenig davon aus. Nachdem in der Gegend so viel Geld in Umlauf gekommen war, wirkte es fast schon bescheiden, was Rant und ich ausgaben. Nichts Besonderes im Vergleich zu dem neuen Lebensstandard.
Mannschaftskapitäne nahmen unter der Hand Geld an, damit auch die miserabelsten Spieler mal ein Inning werfen konnten. Grundschullehrer schrieben für ein paar Hunderter Zeugnisse mit lauter Einsen. Babysitter erlaubten Kindern für hundert Dollar in Sterlingsilber, bis nach Mitternacht vor dem Fernseher zu sitzen.
Livia Rochelle: Mr. Reed vom Trackside-Supermarkt war ganz wild darauf, ihnen Süßigkeiten zu verkaufen. Was damals los war, erkennt man auch daran, dass er die Abteilung mit Damenhandtaschen rausnahm und dafür die Spielzeugabteilung bis zu den Tiefkühlregalen vergrößerte. Ein Jahr lang schien die Hälfte des Ladens nur aus Süßigkeiten, Luftgewehren und Puppen zu bestehen. Um einen neuen Filter für den Brennofen zu kaufen, musste man bis nach Pitman Mills fahren, während es bei Trackside Feuerwerksraketen in siebzehn verschiedenen Farben und Größen gab.
Bodie Carlyle: Wir merkten bald, die Leute verkaufen einem alles, Hauptsache das Geld stimmt. Es kam in Middleton zu einer echten Inflation. Die Taschen voll Zahnfee-Geld, waren die Kinder nicht mehr scharf drauf, den Rasen zu mähen. An den Straßenrändern häuften sich bergeweise Limo- und Bierflaschen, für die man eigentlich noch Pfand bekommen hätte.
Man sprach statt vom »Trickle down«- vom »Trickle up«-Effekt, weil der Reichtum sozusagen von unten nach oben statt von oben nach unten sickerte. Bei uns waren alle Kinder reich, und die Erwachsenen waren scheißfreundlich, um an das Geld ranzukommen.
Wir haben in Middleton einen Wirtschaftsboom ausgelöst. Die Kinder kauften neue Fahrräder, und der Trackside-Supermarkt konnte endlich seinen Parkplatz pflastern. Als die Kinder nach den Sommerferien wieder in die Schule kamen, trugen sie Cowboystiefel aus Eidechsenleder. Riesige, mit Türkisen besetzte Gürtelschnallen. Ihre Armbanduhren waren so schwer, dass man Haltungsschäden befürchten musste.
Der zweite Aufschwung kam zu Weihnachten, als der Weihnachtsmann den Kindern Gold und Silber in die Strümpfe stopfte, egal ob sie brav gewesen waren oder nicht.
Livia Rochelle: Ich versuchte den Schülern in meiner Klasse klarzumachen, dass die Realität auf einem Konsens beruht. Gegenstände, seien es Diamanten oder Kaugummi, besitzen nur Wert, weil wir uns alle darüber einig sind, dass sie diesen besitzen. Gesetzliche Vorschriften wie Tempolimits gibt es nur, weil die
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