Das Kainsmal
nicht mehr in dieser Farbe gestrichen ist. Vergessene Farben aus den Bauernhöfen der Umgebung. Nichts Besonderes. Bis Rant eine Dose aufstemmt, und in der befindet sich Zeitungspapier, teils in Knäueln, teils fest um irgendwelche harten Sachen gewickelt. Wir packen das aus, und da kommen kleine Flaschen zum Vorschein. Schwarzblaues Glas, die Flaschen uralt. Flaschen für Gesichtscreme und Tabletten.
Das Zeitungspapier fühlt sich so weich an wie der Filz auf einem Billardtisch, das Papier ist gelb, nicht weiß, voller ungeheuerlicher Verbrechen, Kriege und Seuchen, die das nahe Ende der Welt verkünden. Jeder Zeitungsjahrgang verkündet ein weiteres Ende der Welt.
Hartley Reed (
Inhaber des Trackside-Supermarkts): Ein Mädchen, die kleine Jordan, kam mit einer Handvoll Goldmünzen an. Fast alles Liberty-Head-Dollars aus der Zeit um 1897. Später erfuhr ich, sie hatte mit einem Stein das Gebiss ihrer Oma zertrümmert. Hat die einzelnen Zähne gegen dieses »Zahnfee-Geld« eingetauscht, wie die Kinder das nannten. Mit den Münzen bezahlte sie ein Puppenhaus, das ich aus dem Walker-Katalog für sie bestellt hatte.
Bodie Carlyle: Die Farbdosen sind mit Münzen vollgestopft. Gold- und Silbermünzen, so voll wie es geht, damit sie nicht klimpern. Auf einigen sieht man Adler, die mit Schlangen kämpfen, auf anderen sind hübsche Mädchen oder alte Männer, die Mädchen leicht bekleidet im Stehen, aber von den alten Männern sieht man nur das Gesicht.
»Goldhamster«, sagt Rant. Leute, die weder der Regierung noch den Banken trauen. Und den Nachbarn, der Familie und ihren eigenen Frauen schon gar nicht. Einsame Geizhälse, sagt Rant, die Gold und Silber horten und irgendwann tot umfallen, ohne dass einer vom Geheimnis ihres Lebens weiß.
Rant sagt, man kann das nicht Raub nennen, wenn der Besitzer tot ist, und wenn er die rechtmäßigen Erben nicht genug geliebt hat, um ihnen von dem Geld zu erzählen. Piratenschätze. Diese Farbdosen, die in irgendwelchen Schuppen, in Scheunen oder den Kofferräumen herrenloser Autos vor sich hin rosten.
Wie sich rausstellt, wusste Rant schon lange von dem Geld. Natürlich war nicht in jeder Farbdose ein Schatz versteckt, aber in erstaunlich vielen. Er wusste es schon lange, hatte aber all die Jahre damit gewartet, bis er eine Idee hatte, wie wir rechtfertigen konnten, dass wir plötzlich so viel Geld hatten. Zwei bloße Halstuch-Pfadfinder, die wir uns nicht mal die uns zustehenden Verdienstabzeichen kaufen konnten, und auf einmal schmeißen wir mit Gold- und Silbermünzen um uns, die hundert Jahre und älter sind.
Hartley Reed: Angebot und Nachfrage. Niemand hat diese Kinder mit vorgehaltener Waffe gezwungen, ihr Geld auszugeben. Die Münzen waren ihr Geld, damit konnten sie alles kaufen, was sie haben wollten. Und natürlich steigt mit der Nachfrage der Preis. Wenn alle Kinder in der Stadt Kirschlimo haben wollen, muss es zur Inflation kommen.
Bodie Carlyle: Rant wollte die Inflation nutzen, unseren Piratenschatz zu waschen. Wir fingen bei unseren allerbesten Freunden in der fünften Klasse an und fragten sie: Bei wem wackelt ein Zahn? Und wenn ihm der Zahn dann ausfiel - klimperklimper -, gaben wir ihm eine Silber- oder Goldmünze und sagten ihm, er soll erzählen, die habe ihm die Zahnfee geschenkt. In der fünften Klasse wissen die meisten, dass die Zahnfee eine Lüge ist, aber das wiederum wissen die Eltern nicht.
An jedem Wochenende sammeln wir Farbdosen ein, ziehen mit dieser Schubkarre immer größere Kreise, um auch die abgelegeneren Bauernhöfe abzugrasen, einsame Inseln, wo sich das gehamsterte Geld nur so stapelt.
Und jede Woche geben wir den anderen Kindern mehr Gold und Silber und sagen ihnen, sie sollen ihren Eltern erzählen, das hätten sie von der Fee für ihre Milchzähne bekommen.
Die meisten Eltern wussten, da stimmt was nicht, aber sie wollten auch nicht zugeben, dass sie selber diese Lügen verbreitet haben, von der Zahnfee und dem Weihnachtsmann und so weiter. Wir belügen unsere Eltern, sie belügen uns, und keiner wollte zugeben, dass er gelogen hatte.
Keiner von den Fünftklässlern hat Rant und mich verpfiffen, weil sie ja alle das Geld behalten und noch mehr kriegen wollten.
Alle haben das Zahnfee-Lügengebilde aufrechterhalten.
Man kann viele Leute dazu bringen, dieselbe Lüge zu erzählen, wenn sie einen Vorteil davon haben. Und wenn man alle dazu bringt, dieselbe Lüge zu erzählen, dann ist es irgendwann keine Lüge
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