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Das kalte Schwert

Das kalte Schwert

Titel: Das kalte Schwert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Morgan
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Schauder lief Gerin bei der Erkenntnis über das Rückgrat, dass er sich bis jetzt diesem Gedanken auch noch nicht gestellt hatte. Viele seiner verworrenen Fluchtpläne hatten in seiner Vorstellung ein schlechtes Ende genommen, aber darunter war nie seine eigene Auslöschung gewesen. Er hatte sich verschiedene brutale Folgen ausgemalt, zusammenfantasiert aus den Ereignissen, bei denen er in der Vergangenheit Zeuge geworden war oder über die er Geschichten am Lagerfeuer gehört hatte. Er hatte seine Vergewaltigung in den Schuldnerzellen immer wieder durchlebt, hatte sich vorgestellt, dass ihm so etwas noch unzählige Male widerfahren würde. Er hatte sogar über der Möglichkeit gebrütet – und dabei einen Schauder nicht unterdrücken können –, kastriert zu werden, was angeblich im yheltethischen Handel nicht unüblich für männliche Sklaven war.
    Aber er hatte sich nie vorgestellt, dass sein Leben enden würde. Hatte nie wirklich geglaubt, dass er derjenige wäre, der losgeschnitten und zurückgelassen würde, bittend und bettelnd, während der Treck weiter in die flirrende Wüste zog. Hatte nie geglaubt, er könne es sein, Gerin Trickfinger, fünfzehn Jahre alt, dessen Leben kaum erst angefangen hatte und der jetzt dort lag, zu schwach, um sich zu rühren, zu schwach für alles außer heiseren Gebeten an den dunklen Hof, an Hoiran oder Dakovash, Kwelgrish oder Horchalat, Firfirdar oder an jeden, verdammt, der dort draußen zuhören mochte. Flehende Bitten, die wie ein gefüllter Wassereimer an einem Seil durch schwache Finger hinab in den Brunnen zurücksausten, schwindende Hoffnung; Gebete um Rettung, dann Gebete darum, einfach gefunden zu
werden, mochten es weitere Sklavenhändler oder Banditen sein; schließlich die schlichte Bitte, dass Durst und Hitze ihn töten mochten, bevor er das erste Pieken und zaghafte Zerren an seinem Fleisch spürte, wenn die Aasfresser seinen zuckenden Leib umkreisten und die Geier in Spiralen herabschwebten, um ihm die Augen auszuhacken …
    Erbärmlich zitternd – diese verdammte Erkältung – sah er sich unter seinen Mitgefangenen um. Der Hagere schaute zu dem Veteranen von Rajal hinüber.
    »Du, Narbengesicht. Meinst du, du schaffst es?«
    Der Veteran schnitt eine Grimasse und überlegte. Wegen der Narben kein schöner Anblick. Gerin dachte an Statuen mit Stoßzähnen und Fängen, die er in den vom Kerzenschein erhellten Schatten des Hoiran-Tempels am Südtor von Trelayne gesehen hatte. Und es hieß, dunkle Geister würden von missgestaltetem und verstümmeltem Fleisch angezogen. Sein Vater hatte ihm einmal erzählt …
    Das Narbengesicht zuckte die Achseln.
    »Wahrscheinlich, ja. Aber man muss daran glauben. Sonst ist alles vorüber.«
    »Genau.«
    »Sieh mal«, sagte Gerin, der verzweifelt den Schauder seiner eigenen jähen Furcht abschütteln wollte. »Ich sag ja nicht, dass die meisten von uns nicht überleben würden. Darum ging es mir nicht.«
    Der Veteran wandte ihm das verwüstete Gesicht zu und fixierte ihn mit seinem Blick. Nach Anbruch der Nacht war jetzt der lange, schimmernde, sichelförmige Rand des Bands deutlich zu erkennen, das sich aus den Wolken am Himmel herausschälte und ein weiches, ungleichmäßiges Licht auf alles warf, was der Dunkle Hof für notwendig erachtete, erfasst zu werden. Ein wenig
von diesem Licht schien sich in den Augen des Mannes zu fangen und dort zu leuchten, als er Gerin ansah.
    »Worum geht es dir dann?«, fragte er leise.
    Es war merkwürdig, aber es war ein Gefühl wie bei der Schauspielerei, wie bei einem der kleinen Stücke eines Straßendramas, das er unten in Strov mit inszeniert hatte, um Publikum anzuziehen oder Mitgefühl bei Passanten hervorzurufen. Als ob es eine korrekte, feststehende Antwort auf diese Frage gäbe. Gerin hatte keine Ahnung, wie sie lauten mochte, und so sah er sich unter seinen Mitgefangenen um, die ihn anstarrten.
    Er räusperte sich.
    »Keiner von uns ist an die Wüstenhitze gewöhnt«, sagte er. »Und die Hälfte von uns schnieft und niest bereits. Wir werden krank und müde dahinstolpern. Wir haben ein paar Tage im Buschland mit den Rationen, die sie uns geben, und es spielt keine Rolle, wer überlebt und wer nicht, denn keiner von uns wird dann in einem Zustand für einen Fluchtversuch sein. Dazu ist jetzt unsere letzte Chance.«
    »Flucht?« Tigeth schnaubte phlegmatisch. »Du blöder verfluchter …«
    Und der Überlebende von Rajal schlug ihm wild auf den Kopf. Tigeth jaulte und fiel

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