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Das Karpathenschloß

Das Karpathenschloß

Titel: Das Karpathenschloß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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dessen einem Ende der Schöpfeimer hängt, endlich einige Wassertümpel, die bei jedem Gewittersturme »entfliehen« (soll heißen, deren Wasser durch den starken Wind hinausgetrieben wird), nebst den veränderlichen kleinen »Bächen« in den Wagen-Karrenspuren – das ist das Bild der zu beiden Seiten der Straße zwischen den schrägen Bergabhängen erbauten Dorfschaft Werst. Dennoch sieht das Ganze frisch und anziehend aus; da giebt es Blumen an den Fenstern und Thüren; grünende Vorhänge bekleiden die Wände, wirr durcheinander wachsende Grashalme, die sich mit dem alten Stroh der Dächer vermischen; Pappeln, Ulmen, Buchen, Tannen, Ahornbäume, die über die Häuser emporragen, »so weit ihnen das möglich ist«. Ueber dem Allen erheben sich die Stufen der Mittelschichten der Bergkette und ganz im Hintergrunde die Gipfel von Einzelbergen, die im blauen Schimmer der Ferne mit dem Azur des Himmels verschwimmen.
    In Werst spricht man, ebenso wie in diesem ganzen Theile Transsylvaniens, weder deutsch noch ungarisch, sondern rumänisch, selbst in den wenigen Zigeunerfamilien, die in den verschiedenen Dörfern des Comitats weniger umherziehen, als seßhaft sind. Diese Fremdlinge nehmen die Sprache des Landes und wohl auch dessen herrschende Religion an. Die von Werst bilden eine Art kleinen Clans unter der Aufsicht eines Woiwoden, mit ihren Hütten, ihren »Barakas« mit spitzem Dache, ihrer Legion von Kindern: sie unterscheiden sich aber durch ihre Sitten und die Regelmäßigkeit ihrer Lebensführung vortheilhaft von denjenigen ihrer Stammesgenossen, die durch ganz Europa ein unstetes Wanderleben führen. Sie huldigen sogar dem griechischen Ritus, indem sie sich unschwer dem Glaubensbekenntnisse der Christen angliedern, in deren Mitte sie leben. Werst besitzt nämlich als geistlichen Herrn einen Popen, der aber in Vulcan wohnt und dem die Seelsorge in den beiden, nur eine Wegstunde von einander liegenden Dörfern anvertraut ist.
    Die Civilisation gleicht der Luft oder dem Wasser. Wo sich nur ein Durchgang bietet, und wär’s nur eine Spalte, ein Riß, der ihr offen steht, da dringt sie hindurch und drückt ihren Stempel auf alle Verhältnisse des Landes und Lebens.
    Leider muß man aber zugestehen, daß sich in diesem südlichen Theile der Karpathen noch keine solche Spalte aufgethan hat. Da Elisée Reclus von Vulcan noch sagen konnte, »daß es der äußerste Posten der Civilisation im Thale der walachischen Sil sei«, so ist es gar nicht zu verwundern, in Werst eines der am meisten zurückgebliebenen Dörfer des Comitats von Kolosvar zu finden. Wie könnte es auch anders sein in diesen Ortschaften, wo Jeder geboren wird, aufwächst und wieder stirbt, ohne sie jemals verlassen zu haben!
    Und doch, wird der Leser hier einwenden, gab es einen Schulmeister und einen Ortsrichter in Werft? – Jawohl. Der Magister Hermod war aber nur im Stande zu lehren, was er selbst verstand, und das beschränkte sich auf ein wenig Lesen, ein wenig Schreiben und das nothdürftigste Rechnen. Seine eigene Ausbildung reichte eben nicht weiter. Von Naturwissenschaft, Geschichte, Geographie und Literatur wußte er nur, was in den Volksliedern und Sagen des Landes niedergelegt war. In phantastischen Erzählungen war er sehr stark, und verschiedene Schüler aus dem Dorfe machten bei ihm hierin recht erstaunliche Fortschritte.
    Was den Ortsrichter angeht, so muß man von der Bedeutung dieser, dem ersten Gemeindebeamten von Werst verliehenen Würde eine etwas genauere Kenntniß nehmen.
    Der Biró Meister Koltz war ein kleiner Mann von fünfundfünfzig bis sechzig Jahren, von Geburt Rumäne, trug kurz geschorene, halbgraue Haare, einen noch schwarzen Schnurrbart und hatte mehr sanfte, als lebhafte Augen. Untersetzt gebaut, wie der Sohn der Berge, bedeckte sein würdiges Haupt ein großer Filzhut; den Leib umschloß ein breiter Gürtel mit erhabenen Verzierungen; dazu trug er eine ärmellose Weste, eine kurze, halbweite Hose, die in den hohen Lederstiefeln steckte. Mehr Gemeindevorstand als Richter, obwohl er die Verpflichtung hatte, unter Nachbarn entstandene Streitigkeiten zu schlichten, verwaltete er sein Dorf ganz nach eigenem Gutdünken und nicht ohne einige Vortheile für seinen Geldbeutel. So waren alle das Gericht berührenden Angelegenheiten – Käufe und Verkäufe – mit einer ihm zufallenden Taxe belegt, ohne von den Wegegeldern u. dgl. zu sprechen, die alle Fremden, Lustreisende oder Handelsleute, in seine Tasche fließen lassen

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