Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
lateinischen Namen eines Gebiets in Kleinasien. Ein alter, spanischer Vorname. Weiß der Himmel, wieso meine Großmutter ausgerechnet diesen Namen für mich ausgesucht hat – das behaupten jedenfalls meine Eltern. Leider ist mir zu spät eingefallen, sie danach zu fragen. Sie ist vor einer Weile gestorben.«
»Das tut mir leid«, meinte Sven ein wenig verlegen.
Sie zuckte nur mit den Schultern und öffnete die Tür zum Konferenzraum.
Isaura rutschte auf ihren Platz. Die Chefredakteurin unterbrach ihren Vortrag nicht, doch der Blick, den sie Isaura zuwarf, ließ ein anschließendes Donnerwetter erahnen. Die Uhr an der Wand zeigte ihr, dass sie eine halbe Stunde zu spät war. Wie hatte das nur passieren können? Sie war doch nur kurz in der Bibliothek gewesen, um einen Blick in die Bücher über historische Mode zu werfen. Und dann war sie auf dieses Bild gestoßen.
Sie konnte das Buch förmlich spüren, das in ihrer Tasche unter dem Tisch steckte. Es schien Wärme auszustrahlen und zu pulsieren, als sei es lebendig und könne seinen Herzschlag über das Leder der Tasche auf ihre Beine übertragen.
Nein, korrigierte sich Isaura in Gedanken. Nicht das Buch, das Bild! Die Frau auf dem Bild mit den rätselhaft traurigen Augen.
»Irgendwelche weiteren Themenvorschläge? Isaura?«
Sie blinzelte und konnte ihren Blick nur mit Mühe auf die Chefredakteurin fokussieren. Es fühlte sich an, als würde sie jemand unvermittelt aus einem Traum reißen. Dieses Ziehen tief in der Brust und die Schwere, die sie wie Gewichte am Grund des Traums zu halten versuchte. Ein schmerzhaftes Sich-Wehren.
»Isaura!«
»Ja?«
»Hast du überhaupt zugehört?«
Sie schwieg. Das war Antwort genug. Was sich nun in Alex’ Miene zusammenbraute, war mehr als nur eines ihrer gewöhnlichen Donnerwetter, die sie in regelmäßigen Abständen über ihre Redakteure entlud.
»Ich will dich nachher in meinem Büro sprechen«, sagte sie gepresst, und ihre zusammengekniffenen Augen verhießen nichts Gutes. Dennoch blieb ihre Stimme ruhig, als sie die Frage wiederholte.
»Ich möchte von jedem Themenvorschläge für unsere neue Reportagenreihe. Wir können auch größere Komplexe einplanen, die dann in mehreren aufeinanderfolgenden Heften verschiedene Aspekte eines Themas beleuchten.«
Isaura nickte, doch ihr Kopf schien ein einziges schwarzes Loch zu sein, das keinen vernünftigen Gedanken hergab. Abgesehen vielleicht von Grübeleien über geheimnisvolle Frauen aus vergangenen Jahrhunderten, die durch ihre Träume spukten. Aber das war wohl kein Thema für das neue Heft.
»Ich denke noch darüber nach«, murmelte Isaura und hoffte, der Blick würde endlich einen ihrer Kollegen ins Visier nehmen. Da meldete sich Sven zu Wort und erlöste Isaura von dem inquisitorischen Blick ihrer Chefin.
»Ja?«
»Wir könnten etwas Historisches machen«, stieß er hervor und sah Beifall heischend in die Runde, doch die meisten schüttelten nur ablehnend die Köpfe oder lächelten herablassend.
»Historisch«, grunzte Hans-Dieter, der älteste unter den Redakteuren, den Isaura am wenigsten mochte. »Was für ein mitreißender Vorschlag, und so detailliert durchdacht!«
Linda murmelte etwas von »verstaubt«. Dennoch hakte Alex nach, ohne dass man ihrer Stimme entnehmen konnte, was sie darüber dachte.
»Spanien«, stieß Sven ein wenig atemlos hervor. Vielleicht bereute er bereits, dass er alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Isauras Dankbarkeit konnte er sich jedenfalls für diese ritterliche Tat sicher sein. Sie beschloss, ihn in der Pause zu einem Kaffee einzuladen.
»Spanien?«, wiederholte Alex. »Und weiter? Welche Zeit?«
»Oh nein«, stöhnte Linda. »Franco, Faschismus, die ganze alte Leier.«
»Nein!«, wehrte Sven ab. Der Junge ließ sich nicht unterkriegen. »Weiter zurück. Fünfzehntes oder sechzehntes Jahrhundert.«
Isaura wusste, was ihn auf diesen Einfall gebracht hatte, der nichts anderes war als ein Versuch, sich anständig aus der Affäre zu ziehen. Sie sah in den fragenden Gesichtern der Kollegen, dass keiner eine rechte Vorstellung von dieser Zeit hatte, und selbst Alex schien sich nicht sicher, was sie von diesem Vorschlag erwarten konnte. Auch Isaura hatte nur eine vage Idee. Schlagwörter wie Reconquista, Inquisition, Judenvertreibung, Eroberung von Granada, Christoph Kolumbus und die Entdeckung Amerikas fielen ihr ein. Und das Bild einer unbekannten Frau in einem strengen, dunklen Kleid der frühen spanischen
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