Das kastilische Erbe: Roman (German Edition)
sah.
Sie saß in ihrem Bett. Das Licht des Morgens drang in warmen Farbtönen durch den zugezogenen Vorhang. Von draußen drang gedämpft der Straßenlärm einer erwachenden Stadt zu ihr herauf. Die Anzeige ihres Weckers zeigte 6:30. Verschwunden waren der düstere Palastbau und mit ihm die Frau, deren Schicksal ihr Herz schmerzen ließ. Isaura presste sich beide Handflächen gegen die Brust und lauschte dem schnellen, unruhigen Schlag ihres Herzens, der sich nur langsam beruhigen wollte. Dann glitt ihre Hand zu ihrer Wange, die nass von Tränen war.
Schon wieder dieser Traum. Schon wieder diese Frau, deren trauriges Los sie nachts wieder und wieder verfolgte. Isaura hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie ihr schon erschienen war. Doch wer war diese Frau? Was war ihr widerfahren, und warum kehrte sie immer wieder zu ihr zurück? Isaura zog die Beine an und umschlang ihre Knie. Sie presste ihr Gesicht in die Bettdecke und wischte sich die Tränen aus den Augen.
Warum ging ihr diese Geschichte so nah? Und warum fühlte es sich stets so echt an, dass sie sich an jede Kleinigkeit erinnern konnte? Nicht nur an das, was sie um sich sehen konnte. Das Gefühl jedes Stoffes unter ihren Fingern, all diese fremden Geräusche und Gerüche. Alles war nah und lebendig und doch auch weit weg und verwirrend.
Noch einmal quäkte der Wecker, und Isaura brachte ihn mit einem Schlag zum Schweigen. Sie warf die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Sie war daheim in ihrem Schlafzimmer in ihrer Wohnung in München. Dies war ihre Zeit und ihr Leben. Isaura schob den Traum energisch beiseite. Für so etwas hatte sie jetzt keine Zeit. Erst einmal einen Kaffee kochen und vielleicht eine Semmel von gestern aufwärmen. Oh ja, mit der frischen Erdbeermarmelade, die sie vergangenes Wochenende gekocht hatte. Und vorher eine heiße Dusche, um richtig wach zu werden, ehe sie sich später auf den Weg zur Redaktion machen würde.
Das war ihr Leben. Das war die Wirklichkeit.
Doch sosehr sie sich auch bemühte, der gebrochene Blick der Frau folgte ihr und ließ sich nicht vertreiben.
Kapitel 1
München, März 2012
»Isa, wo bleibst du? Ich muss los!«
Sie wankte in die Küche und rutschte auf den Barhocker vor der Theke, wo sie gewöhnlich das Frühstück einnahmen. Heute standen dort nur zwei große Tassen mit Milchkaffee und eine Schüssel Kekse. Sie griff mit zitternder Hand nach dem Henkel der Tasse, hielt aber mitten in der Bewegung inne und wandte den Blick ihrem Mann zu, dessen Augenbrauen ein Stück nach oben gewandert waren. Sie hörte seine Gedanken, ohne dass er die Worte aussprach, und sah sich mit seinem Blick, der langsam an ihr herabglitt: über das ungekämmte Haar, das ihr in alle Richtungen abstand, und das fleckige Gesicht hinab zu ihrem alten Morgenmantel, den sie sich rasch über den Schlafanzug gestreift hatte. Sie sah fürchterlich aus!
Isaura spürte, wie sich das Rot der Flecken in ihrem Gesicht intensivierte, als wäre sie ein Teenager, den man mit einem einzigen kritischen Blick aus dem Gleichgewicht bringen konnte.
»Was ist?«, fragte sie und wusste, dass ihre Stimme aggressiv klang. Das Knurren der Tigerin, die sich durch eine gehobene Braue provoziert fühlt.
»Du hast nicht gut geschlafen«, sagte Justus. Es war eine Feststellung, keine Frage. Es musste heute wirklich schlimm um sie stehen, wenn es sogar ihm auffiel, obwohl er in Eile war.
»Stimmt«, bestätigte Isaura. »Es war wieder dieser Traum.«
»Ein Albtraum?«, hakte Justus nach und griff nach seiner Kaffeetasse. Mit der anderen Hand angelte er sich zwei Kekse.
Isaura überlegte. »Nein, eigentlich ist es kein Albtraum.«
»Nein, überhaupt nicht«, gab Justus mit einem Mund voller Kekskrümel zurück. »Deshalb stöhnst und weinst du auch immer oder schreist und strampelst die Decke weg!«
Isaura schwieg und trank einen Schluck Kaffee.
»Oder hat sich das inzwischen etwa geändert?«, hakte Justus nach und nahm sich noch zwei Kekse.
Isaura hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Aber zumindest störe ich dich nicht mehr damit.«
Justus wandte den Blick ab. »Ich brauche meinen Schlaf, sonst kann ich nicht arbeiten«, brummte er, und dieser missmutige Zug, der ihr jedes Mal das Herz schwer werden ließ, schlich sich wieder in seine Miene.
Isaura nickte nur stumm. Sie selbst hatte es vor einem Jahr vorgeschlagen, eines der beiden Arbeitszimmer in ein zweites Schlafzimmer für Justus umzuwandeln, damit sie ihn mit ihren Träumen nicht mehr
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