Das Kind, Das Nicht Fragte
und baut die Ponderosa-Ranch mit Laubsägearbeiten nach. Und am Abend sind wir wieder alle zusammen, bei Apfelschorle, Graubrot und Käsescheibletten (die meine Brüder immer besonders gemocht haben) und singen ein Marienlied nach der kargen Abendmahlzeit. (Es gibt mehrere solcher ausdekorierten Großfantasien, das ist eine davon. Sie werden
bei Familientreffen unter viel Gejohle und Lachen erzählt und integrieren jedes Mal Filmelemente in die idyllischen Bilder eines friedlichen familiären Umgangs.)
Ich habe mir all diese Fantasien und Erzählungen stets nur ruhig und ohne weitere Kommentare angehört. Ich habe gelächelt und kein Wort dazu gesagt, ich habe mich an meine Rolle (als behindertes und gestörtes Kind) gehalten und von allem geschwiegen, was damals an Schrecklichem passiert ist. Ich konnte davon nicht im Ganzen erzählen, das aber wäre notwendig gewesen, denn eine kleine Korrektur hier und ein kurzer Kommentar dort hätten die schummrigen Fantasie-Bilder meiner Brüder nicht wirklich getroffen.
Jetzt aber kommt alles heraus, und das in einem wörtlichen Sinne. Ich erzähle, ich rede, ich schweige nicht mehr. Ich setze immer wieder von Neuem und von vorne an, so dass ich schon beinahe Angst habe, ob ich für Paula noch erträglich bin. Es ist aber nicht mehr unbedingt notwendig, dass sie mir zuhört. Ich sitze in meinem Pensionszimmer, und plötzlich brodelt es aus mir heraus. Ich spucke und speie es aus, und ich schalte das Diktiergerät ein, um all meine Elendserzählungen für immer zu speichern: – Es ist Ostern, und wir gehen zum Ostereiersuchen in den Stadtpark. Papa, wir wissen es alle, hat die Ostereier versteckt, aber wir tun so, als hätten wir den Osterhasen gerade noch ums Eck kurven sehen. Josef, Martin, Georg und Andreas suchen vor allem nach rohen Eiern, und einige von ihnen werfen sie dann weit ins Gelände und wetteifern darum, dass sie nicht zerplatzen. Jeder von ihnen hebt aber drei oder vier Eier auf, heimlich,
jeder für sich. Wenn wir nach dem Ostereiersuchen allein sind und Papa längst wieder zu Hause ist, zerschlagen sie die rohen Eier an meinem Kopf und streiten dann darum, welches Eigelb sich am weitesten über meinen Oberkörper verteilt. Andreas hat oft gewonnen, und einmal tropfte das Eigelb sogar bis auf meine Schuhe …
Ich werde so lange von meiner Kindheit erzählen, bis ich selbst das Gefühl habe, es sei genug. Dann werde ich meine Erzählungen auf eine CD überspielen und jedem meiner Brüder ein Exemplar schicken.
7
A DRIANA BONNI fährt wahrhaftig in einem Cabrio vor und holt mich zu einem Abendessen im Hafen ab. In der Dunkelheit erkenne ich nicht, um welche Automarke es sich handelt, deshalb gehe ich auf dieses Thema erst gar nicht ein. (Der Wagen ist aber nicht hellgrün , sondern hellblau , in diesem Punkt habe ich mich geirrt.) Sie trägt ein dunkelrotes Kleid mit einem sehr breiten Lackgürtel und dazu hellweiße Turnschuhe, einerseits wirkt sie betont seriös, andererseits aber auch noch wie ein Teeny, der halbwegs naiv durchs Leben tollt. Wir rollen die Panoramastraße zum Hafen hinab und hören Ray Charles, ich komme mir vor wie in einem Film aus den fünfziger Jahren. Adriana hat sich nicht angeschnallt (da hatte ich also recht), und auch ich bin nicht angeschnallt, anschnallen
passt einfach nicht in das Retro-Projekt, in dem wir beide gerade stecken.
Um das Private gar nicht erst hochkommen zu lassen, spreche ich ununterbrochen von meinen Forschungen. Ich benenne die Leerstellen, ich skizziere die Gliederungspunkte, und ich gebe mich emphatisch und optimistisch, was die weiteren Arbeitsschritte betrifft. Als ich damit durch bin, spreche ich von der Arbeitsgruppe, die sich um das große Bauvorhaben Mandlicas kümmert. Zusammen mit Matteo Volpi habe ich in dieser Gruppe inzwischen den Vorsitz übernommen und hier ebenfalls die Planungen gut vorangetrieben. Adriana zeigt auch bei diesem Thema großes Interesse, und sie fragt mich, ob sie für diese Gruppe als eine Art Assistentin arbeiten könne. Ich antworte, dass ich mir das Angebot überlegen und mit ihrem Vater diskutieren werde, da sagt sie:
– Die Idee ist von meinem Vater, er wünscht mich noch enger an Ihrer Seite.
– Ach so, antworte ich einfallslos, na dann haben Sie ja große Chancen.
– Habe ich die? fragt sie nach.
– Die haben Sie.
– Ich habe also bei Ihnen große Chancen? fragt sie da beim Aussteigen noch einmal und schaut mich über den Wagen direkt an.
– Absolut,
Weitere Kostenlose Bücher