Das Kind, Das Nicht Fragte
erfüllt, und ich habe versucht, auch ihnen die Wünsche zu erfüllen, die sie an mich hatten. Ich bin aufgewachsen wie keine andere junge Frau in dieser Gegend, ich habe alles bekommen und alles gehabt, und sobald ich mich für etwas interessierte, waren die entsprechenden Geschenke oder Lehrer da, oder ich wurde für ein paar Wochen in die Fremde geschickt, um dort zu lernen, was mir hier niemand beibringen konnte. Ich habe eine glückliche Kindheit gehabt, unbedingt, aber es ist mit den Jahren eine Distanz zu Gleichaltrigen entstanden, die mir nicht gut bekam. Irgendwann gehörte ich nicht mehr zu ihnen, denn ich lebte ja ganz woanders, auf Reisen, für Wochen in anderen Städten, und war dann mit anderen Themen beschäftigt, von denen niemand hier je etwas gehört hatte. Wenn ich mit Freunden meines Alters zusammen war, spürte ich es: Ich war anders, und ich fühlte mich
älter. Nicht überlegen, sondern älter, viel älter. Ich begann, den ganzen Jugendmurks zu verachten, die Treffen in Clubs hier am Hafen, das Herumstehen in den Diskotheken, die langen, unendlich faden Nächte mit immer derselben Musik. Ich hatte zu diesem Zeitvertreib überhaupt keine Lust, mir erschien das wie ein einziges Warten und wie eine einzige Leere, als traute man sich nicht, das Leben anzupacken und endlich etwas zu tun, das einem wirklich wichtig ist. Es war aber nicht so, dass mich keiner meiner Freunde oder Bekannten begehrt hätte, natürlich begehrten sie mich, ich sehe gut aus, das darf ich ja wohl behaupten, so dass ich mich jemandem hätte anschließen und ihn für ein paar Monate hätte begleiten können. Ich wollte aber nicht, ich hatte dazu keine Lust, es geht einfach nicht, sagte ich mir, ich möchte nicht neben jemandem im Dunkel der Nacht stehen und darauf warten, dass er mich küsst, um dann ein paar sinnlose Worte mit ihm zu wechseln oder gar am Ende mit ihm ins Bett zu gehen. Und so ging ich mit niemandem ins Bett, nein, ich legte es geradezu darauf an, es mit niemandem zu tun, und ich vermute, viele meiner losen Freunde oder Bekannten haben mich schließlich dafür gehasst. Sie will etwas Besonderes sein, haben sie gedacht, sie ist sich zu fein für uns Typen aus Mandlica! So aber habe ich niemals gefühlt und gedacht, nein, so nicht! Es war viel einfacher, ich war älter, viel älter, und ich hatte den Geschmack an der Jugend verloren, an der Jugend und an allem, was dazugehört.
Ich kenne dieses Sprechen genau, ich habe es selbst an mir erlebt, es ist ein verzweifeltes Sprechen, das nicht aufhören will. Ich bin sicher, Adriana Bonni hat das, was sie gerade erzählt, noch niemandem so erzählt, ich bin also die erste Person, die es zu hören bekommt, und ich
habe vorerst keine andere Aufgabe, als zuzuhören und diesem nervösen und unruhigen Sprechen aufmerksam zu folgen. Sie spricht denn auch weiter und weiter, sie holt aus und erzählt von den Großeltern und Ferien in Palermo und von einer Besteigung des Ätna vor einem Jahr und längst vergangenen, unglücklichen Tagen in den Orangenhainen des Südens, es geht sehr durcheinander, und das beweist, dass sie sich dieses Sprechen nicht überlegt hat und den Sätzen nun ungeordnet und frei ihren Lauf lässt. Es ist auch zu sehen, wie sehr sie das alles mitnimmt und erschöpft, sie isst nicht mehr, trinkt aber den Weißwein zu schnell, ich entziehe ihr immer wieder geduldig die Flasche und versenke sie in dem Eiskübel, sie aber greift ohne Zögern und Umschweife wieder nach dem Wein, sie ist nicht aufzuhalten, ich weiß das ja längst. Erst nach dem dritten oder vierten Glas macht sie plötzlich halt und taucht aus ihrem dunklen Redestrom auf. Sie wischt sich durchs Haar und nimmt von den kleinen Eisbrocken, die den Wein kühlen sollen, und hält sich die Stücke kurz an die Schläfe.
– Mein Gott, ist mir kalt! sagt sie leise und wirft das Eis sofort wieder zurück in den Kübel. Sie schaut auf ihren Teller, auf dem sich die leeren Austernschalen stapeln, sie schiebt ihn von sich weg und starrt vor sich hin, und ich vermute, dass sie jetzt noch eine weitere Flasche Wein bestellen wird. Das werde ich nicht zulassen, denke ich, da winkt sie aber auch schon nach dem Kellner und bittet ihn, uns den Rest der Flasche Donnafugata zu geben, gib uns den Rest, Mauro , sagt sie wahrhaftig, und es hört sich an, als befänden wir beide uns in einer schlimmen und aussichtslosen Lage irgendwo in der Prärie.
Sie möchte eine weitere Flasche, sie sagt es laut, und Mauro
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