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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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Bewegung zu halten. Ich bemerke gar nicht, wie die Stunden vergehen, es gibt so viel zu erzählen, und ich habe Angst, dass ich mit dem Erzählen nicht mehr aufhören kann. Manchmal, wenn ich einen Spaß mache oder meine Erzählungen komisch sind, muss Paula lachen, und auch ich muss dann lachen. Während ich so weitererzähle, wird das immer häufiger, Paula lacht, ich lache, wir lachen beide, und dann sind fast drei Stunden vergangen, und ich recke mich auf und sage:
    – Jetzt ist aber genug.
    – Nein, sagt Paula, nicht genug, sondern fürs Erste genug. Wir machen nur eine Pause, und wenn Du wieder Lust hast, erzählst Du weiter.

    Wir verlassen das Kloster und fahren mit dem Wagen wieder hinunter an die Küste und baden am Abend noch einmal im Meer. Ich schaue hinüber zum griechischen Festland, und ich denke etwas Seltsames, denn ich denke, dass sich dieses Land jetzt bewegt. ( Es kommt in Bewegung , denke ich, überlege mir dann aber nicht weiter, was das nun wieder bedeutet.)

    Nach dem Bad setzen wir uns in eine Taverne am Fluss und bestellen Lammfleisch und frisches, gegrilltes Gemüse und einen korfiotischen Wein. Es dauert ziemlich lang, bis die Speisen serviert werden, die Taverne ist voller Menschen, aber es macht mir nichts mehr aus, unter all diesen Menschen zu sitzen und Paula von mir zu erzählen.

    Denn ich beginne an diesem Abend wahrhaftig von Neuem, und ich erzähle und erzähle, und es dauert bis tief in die Nacht.

6
    M ANDLICA HAT den großen, heißen Sommer nun wohl überstanden. Nach den ersten schweren Herbstgewittern gab es nämlich Tage, an denen er zurückzukehren schien. Der Himmel war erneut wolkenlos, und von den Bergen her zog eine unheimliche Schwüle auf, die sich in der Stadt festsetzte. Das dauerte jedes Mal einige Tage,
und man glaubte, unter einer Glocke aus zunehmender Warmluft zu sitzen, die sich schließlich in einen durch die Straßen fegenden Dampf verwandelte. Es krachte und blitzte ein paar Stunden, doch danach zeigte sich jedes Mal wieder die Sonne, und das Leben pendelte sich ein in jenem mir inzwischen nur allzu bekannten Sommer-Nirwana, das auf den Straßen der Stadt zu einer seltsamen Ruhe führt.

    Diese frühherbstliche Ruhe ist jedoch eine andere Ruhe als die des Sommers. Schaut man länger hin, bemerkt man die Veränderungen genau. Die Männer zum Beispiel, die früher meist in Gruppen auf dem Corso gestanden haben, gehen jetzt häufiger auf und ab und an den Geschäften und Läden entlang, als suchten sie den Sommer noch in den letzten, aufleuchtenden Ecken. Und die Katzen haben jetzt etwas Behendes und Zerstreutes und huschen mehrmals in einer Stunde auf immer denselben Wegen durch immer denselben kleinen Bezirk, als hätten sie bereits vergessen, dass sie ihn gerade schon durchstreunt haben.

    Ich richte mich darauf ein, den kommenden Herbst hier zu verbringen, erst zu Beginn des Winters werde ich noch einmal für ein paar Tage nach Köln fahren, um in meiner Wohnung unter dem Dach nach dem Rechten zu sehen. Meine für das Wintersemester angekündigten Lehrveranstaltungen habe ich abgesagt und diese Absage mit dem unerwartet gewachsenen Umfang meiner Forschungsarbeiten begründet. Während ich den Brief an den Dekan schrieb, hatte ich das Gefühl einer immensen
Erleichterung, ich bin frei , dachte ich, und so soll es bleiben.

    Die ersten etwas kühleren Tage (ich rede von etwa zwanzig Grad) habe ich dazu genutzt, die große Materialienmasse der Gespräche, Notizen und Vorfassungen zu ordnen. Ich habe mir Gedanken über eine mögliche Gliederung meiner großen Studie gemacht und eine grobe Skizze möglicher Schwerpunkte angelegt. Ein solches Gliedern und Unterteilen ist ein besonderes Vergnügen, es heizt den Forschungselan an und führt zu immer neuen, vorher gar nicht in Betracht gezogenen Themen und Perspektiven.

    Meine bisherige Grobstruktur der Gliederung orientiert sich an den Räumen von Mandlica: 1) Die alte Oberstadt und das Kastell, 2) Das Zentrum, der Corso, der Domplatz, 3) Die Unterstadt und der Hafen. Diese relativ großen Bezirke werden dann in kleinere unterteilt, und diesen kleineren Bezirken werden die Gespräche mit den jeweiligen Bewohnern zugeordnet. Die Gespräche selbst werden auf ihre Besonderheiten ( Themen, Sprechformen, Interpretationen des Raums, Psychosoziale Debatten) hin untersucht, so dass deutlich wird, wie die Bewohner der jeweiligen Bezirke den ihnen zur Verfügung stehenden Raum nutzen, verstehen und deuten. Dadurch

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