Das Kind des Schattens
stattdessen nach Westen weiter, und am frühen Nachmittag kamen sie zu einem Aussichtspunkt und konnten von dort auf die Mauern von Seresh und auf das Meer blicken. Sie hielten an und schauten hinunter.
»Hasst du ihn noch immer?« fragte Paul, und es waren die ersten Worte, die nach langem Schweigen gesprochen wurden. Er wusste, dass Col verstehen würde, was er sagen wollte. Ich hätte ihn gerne im Namen aller Göttinnen und Götter verflucht, hatte er eines Nachts vor langer Zeit in einem dunklen Gang zu Paul geäußert. Und er hatte dabei Ailerons Namen genannt, was damals einem Hochverrat gleichkam.
Nun schüttelte der großgewachsene Mann langsam den Kopf. »Ich kann mich jetzt besser in seine Lage versetzen und sehen, wie viel er gelitten hat.« Er zögerte und fuhr dann sehr sanft fort: »Aber ich werde seinen Bruder mein ganzes restliches Leben vermissen.«
Paul verstand. Er empfand dasselbe für Kevin, genau dasselbe.
Dann sprach keiner von ihnen mehr. Paul blickte zum Westen hinüber, wo das Meer in der hellen Sonne blitzte. Unter den Wellen leuchteten die Sterne. Er hatte sie gesehen. In seinem Herzen nahm er Abschied von Liarnan, dem Gott, der ihn Bruder genannt hatte.
Col blickte zu ihm hinüber, Paul nickte, und die beiden drehten sich um und ritten nach Paras Derval zurück.
Am nächsten Abend gab es beim Bankett in der Halle Speisen aus Cathal, die von Shalhassans eigenem Küchenmeister zubereitet worden waren, und danach fand er sich im Schwarzen Eber wieder, zusammen mit Dave, Col und all den Männern der Südfeste, die auf der Prydwen nach Cader Sedat gesegelt waren.
Sie tranken viel, und der Eigentümer der Taverne weigerte sich, irgendeinen von Diarmuids Männern für ihr Bier zahlen zu lassen. Tegid von Rhoden, der eine solche Großzügigkeit nicht ungenutzt vorübergehen lassen konnte, leerte gleich zu Beginn zehn große Krüge und beschleunigte dann im Laufe der Nacht noch seine Geschwindigkeit im Trinken. Auch Paul war ein wenig betrunken, was bei ihm selten vorkam, und vielleicht gingen ihm deshalb seine Erinnerungen nicht aus dem Kopf. Die ganze Nacht hörte er in all dem Gelächter und den Abschiedsumarmungen »Rachels Lied« in seinem Geiste.
Den Nachmittag darauf … es war der vorletzte … verbrachte er im Viertel der Magier in der Stadt. Dave war bei den Dalrei, aber Kim war diesmal mit ihm gekommen, und sie blieben einige Stunden mit Loren, Matt, Teyrnon und Barak zusammen, die im Garten hinter dem Haus saßen.
Loren Silbermantel, der jetzt kein Magier mehr war, wohnte inzwischen als erster Berater des Zwergenkönigs in Banir Lök. Teyrnon und Barak waren sichtlich erfreut, dass die beiden anderen bei ihnen weilten, auch wenn es nur für kurze Zeit war. Teyrnon achtete darauf, dass alle Gläser bis zum Rand gefüllt waren, und ging glücklich und geschäftig im Sonnenschein hin und her.
»Sagt«, wandte sich Barak ein wenig verschmitzt an Loren und Matt, »glaubt ihr, dass ihr beiden euch nächstes Jahr ein paar Monate um einen Schüler kümmern könntet? Oder habt ihr alles vergessen, was ihr gewusst habt?« Matt blickte schnell zu ihm hinüber. »Hast du schon einen Schüler? Gut, sehr gut. Wir brauchen mindestens noch drei oder vier.«
»Wir?« zog Teyrnon ihn auf. Matt grollte. »Gewohnheiten sterben nur schwer. Manche, so hoffe ich, werden niemals sterben.«
»Sie brauchen auch nie zu sterben«, bemerkte Teyrnon nüchtern. »Ihr beide werdet immer zum Rat der Magier gehören.«
»Wer ist unser neuer Schüler?« fragte Loren. »Kennen wir ihn?«
Als Antwort blickte Teyrnon zum Fenster im zweiten Stock hinauf, das zum Garten ging.
»Junge!« schrie er und versuchte streng zu klingen. »Ich hoffe, du lernst und hörst nicht unserem Klatsch hier zu.«
Einen Augenblick später erschien ein brauner Wuschelkopf mit widerspenstigem Haar am Fenster.
»Natürlich lerne ich«, antwortete Tabor, »aber ehrlich gesagt, nichts von dem ist besonders schwer.« Matt räusperte sich in gespielter Missbilligung. Loren, der sich bemühte, ein Stirnrunzeln zustande zu bringen, grollte heftig: »Teyrnon, gib ihm das Buch von Abhar, und dann werden wir sehen, ob ihm das Lernen schwer fällt oder nicht!«
Paul grinste, und Kim lachte vor Freude auf, als sie sah, wer da auf sie herablächelte. »Tabor!« rief sie aus. »Seit wann bist du hier?«
»Seit zwei Tagen«, erwiderte der Junge. »Mein Vater hat zugestimmt, nachdem Gereint mich darum gebeten hat, zurückzukommen und
Weitere Kostenlose Bücher