Das Kind
sagte Hertzlich. »Doch egal ob der fünf, fünfzehn oder vielleicht fünfzig Jahre zurückliegt …«, er kam einen Schritt näher, »… eines steht in jedem Falle fest: Simon kann’s nicht gewesen sein.«
»Das sehe ich genauso. War’s das?« Stern stand auf, schob entnervt den Ärmel seines Manschettenhemdes zurück und sah demonstrativ auf die Uhr an seinem Handgelenk. Es war kurz vor halb elf.
»Selbstverständlich, Sie können gehen. Ich hab mit den beiden
Herren ohnehin etwas viel Dringenderes zu besprechen.« Hertzlich nahm einen zusammengerollten Papphefter in die Hand, der ihm bislang unter dem Arm geklemmt hatte, und präsentierte ihn seinen Beamten wie eine Trophäe. »Es gibt eine neue, ganz erstaunliche Entwicklung.«
5.
M artin Engler wartete ab, bis der Anwalt die Tür hinter
sich zugezogen hatte. Dann konnte er seine Wut nicht mehr zügeln und sprang so abrupt auf, dass sein Holzstuhl nach hinten umkippte.
»Was war das denn für eine Scheiße?«
Brandmann räusperte sich und schien tatsächlich etwas sagen zu wollen. Doch diesmal kam ihm Hertzlich zuvor, der den Hefter mit der Rückseite nach oben auf den Tisch legte.
»Wieso? Das lief doch ganz phantastisch.« »Quatsch, so kann man kein Verhör führen«, schleuderte Engler seinem Vorgesetzten entgegen. »So einen Mist mache ich nie wieder.«
»Was regen Sie sich denn so auf?«
»Weil ich mich eben lächerlich gemacht habe. Auf diese ›Guter Cop – Böser Cop‹-Nummer fällt doch keine Sau mehr rein. Erst recht nicht einer vom Kaliber eines Robert Stern.«
Hertzlich sah nach unten auf seine ungeputzten Glattlederschuhe, deren Schnürsenkel hoffnungslos verknotet waren.
Dann schüttelte er verwundert den Kopf.
»Ich dachte eigentlich, Sie hätten die Methodik kapiert, Engler.«
Die Methodik. Was für ein Schwachsinn. Engler schäumte
vor Wut.
Seitdem Brandmann zu ihnen gestoßen war, verging keine Woche, in der er nicht mindestens an einem Seminar in psychologischer Verhandlungsführung teilnehmen musste. Das Riesenbaby war vor drei Wochen im Rahmen eines Schulungsprogramms vom BKA ausgeborgt worden, wo der Kommissar als psychologisch versierter Profi ler arbeitete. Offi ziell war er Englers Team nur als Berater zugeteilt, doch es sah ganz danach aus, als ob sein Status soeben zu dem eines Sonderermittlers aufgewertet worden war. Immerhin musste Engler ihn sogar während des Verhörs an seiner Seite dulden.
»Ich muss Hauptkommissar Hertzlich recht geben«, warf der Kriminalpsychologe freundlich in die angespannte Runde. »Eigentlich funktionierte alles wie im Lehrbuch.« Er räusperte sich. »Erst wurde Stern durch die lange Wartezeit nervös. Dann konnte er mich durch mein Schweigen keinem konkreten Lager zuordnen. Hier liegt übrigens der Unterschied zu der veralteten Verhörtaktik, wie Sie sie eben beschrieben haben, Herr Engler.«
Brandmann machte eine Kunstpause, und Martin fragte sich, warum der Typ ihn auch noch dämlich angrinsen musste, wenn er ihm schon diesen Vortrag hielt.
»Gerade weil ich nicht den ›guten Cop‹ spielte, schlug Sterns Nervosität in Verwirrung um, und er suchte einen Zugang zu Ihnen. Als er den nicht fand, wurde er schließlich wütend.«
»Okay, vielleicht hätte ich ihn ja am Ende auch noch zum
Bellen gebracht, wenn wir es darauf angelegt hätten. Ich frag mich nur, wozu das Theater gut sein sollte?« »Wer wütend ist, macht Fehler«, tönte Hertzlich, und Engler dachte nicht zum ersten Mal darüber nach, wie unpassend manche Namen doch sein konnten. Auf dem gesamten Revier kannte er keinen, der vom Chef das »Du« auf der Weihnachtsfeier akzeptiert hätte.
»Außerdem brauchten wir die verschiedenen Emotionsschwankungen von Stern für die Auswertung seiner optischen Refl exanalyse.«
Optische Refl exanalyse. Eye-Tracking. Pupillometrie. Alles
so ein neumodischer Mist. Seit einer Woche war der triste Verhörraum, in dem sie sich gerade angifteten, zu Testzwecken verkabelt worden. Eine von drei versteckten Kameras war auf die Augen der Verhörperson ausgerichtet. In der Theorie verriet sich ein Täter durch verstärktes Blinzeln, Kontraktionen der Iris und Veränderungen des Blickwinkels bei der Befragung. In der Praxis stimmte Engler dem zu, vertrat aber den Standpunkt, dass ein erfahrener Ermittler keinen technischen Firlefanz brauchte, um eine Lüge zu erkennen.
»Wir können nur beten, dass Stern nicht herausbekommt, dass wir ihn heimlich gefi lmt haben.« Er deutete auf die Wand hinter sich.
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