Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind

Titel: Das Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
Altersklassen. Diese Sehnsucht nach dem Übernatürlichen bot den idealen Nährboden für zwielichtige Therapeuten, die gerade wie Unkraut aus dem Boden schossen und gegen ein stattliches Honorar solche »Rückführungen« anboten: Reisen in die Vergangenheit vor der Geburt, auf denen man, meistens unter Hypnose, erfuhr, dass man vor sechshundert Jahren auf einem Scheiterhaufen verbrannt oder in Frankreich zum König gekrönt worden war.
»Guck mich nicht so an. Ich weiß, was du von so etwas hältst. Du liest ja noch nicht einmal dein Horoskop.« »Wie konntest du diesen Jungen nur einem solchen Hokuspokus aussetzen?«
Stern war ehrlich entsetzt. In dem Fernsehbeitrag hatten sie vor schweren psychischen Schäden gewarnt. Labile Persönlichkeiten konnten es oft nicht verkraften, wenn ihnen ein Quacksalber einredete, ihre gegenwärtigen seelischen Pro bleme hätten etwas mit einem ungelösten Konfl ikt in einem früheren Leben zu tun.
»Ich wollte Simon nur zeigen, dass es danach nicht vorbei ist. Nach dem Tod. Dass er nicht traurig sein muss, nur so kurz gelebt zu haben, weil es doch immer weitergeht.« »Sag mir, dass das ein Scherz ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich brachte ihn zu Dr. Tiefensee. Er ist ein examinierter Psychologe und gibt Kurse an der Universität. Also kein Scharlatan, wie du sicher denkst.« »Was ist passiert?«
»Er hypnotisierte Simon. Und eigentlich geschah nicht viel. Unter Hypnose konnte Simon kaum etwas erkennen. Später sagte er nur, er wäre in einem dunklen Keller gewesen, in dem er Stimmen gehört hätte. Grausame Stimmen.« Stern verzog schmerzhaft sein Gesicht. Die Kälte, die ihm den Rücken heraufkroch, wurde von Sekunde zu Sekunde unangenehmer, aber das war nicht der einzige Grund, warum er so schnell wie möglich von hier fortwollte. Irgendwo in der Ferne grub sich ein Güterzug seinen Weg zum nächsten Bahnhof, und Carina fl üsterte jetzt, so wie Stern zu Beginn ihrer Unterhaltung.
»Als Tiefensee ihn wieder aus der Hypnose zurückholen wollte, schaffte er es zuerst nicht. Simon war in einen tiefen Schlaf gefallen. Und als er wieder aufwachte, sagte er uns das Gleiche, was er eben dir erzählt hat. Er denkt, er war einmal ein Mörder.«
Stern wollte sich seine feuchten Hände an seinen dichten braunen Haaren abwischen, aber selbst die waren vollständig vom Nieselregen durchtränkt.
»Das ist alles Wahnsinn, Carina. Und das weißt du auch. Ich frag mich nur, was das alles mit mir zu tun hat?« »Simon besitzt einen unglaublichen Gerechtigkeitssinn und
will unbedingt zur Polizei gehen.«
»Genau.«
Robert und Carina drehten sich abrupt zu dem Jungen um, der während ihrer hitzigen Auseinandersetzung unbemerkt zu ihnen herübergekommen war. Der Wind wehte ihm seine lockigen Haare in die Stirn, und Stern fragte sich, warum er überhaupt noch welche besaß. Sicherlich hatte er doch eine Chemotherapie durchleiden müssen.
»Ich bin ein Mörder. Und das ist Unrecht. Ich will mich stellen. Aber ich sage nichts mehr ohne meinen Anwalt!« Carina lächelte schwermütig. »Diesen Satz hat er aus dem Fernsehen aufgeschnappt. Und du bist leider der einzige Strafverteidiger, den ich kenne.«
Stern vermied es, ihr ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte er nach unten auf den schlammigen Boden, als könnten ihm seine handgenähten Lederschuhe verraten, wie er am besten auf diesen Irrsinn reagieren sollte.
»Und?«, hörte er Simon fragen.
»Und was?« Er sah auf, dem Jungen direkt ins Gesicht, und wunderte sich, dass der Kleine wieder lächelte. »Sind Sie jetzt mein Anwalt? Ich kann Sie auch bezahlen.« Simon fi ngerte etwas umständlich ein kleines Portemonnaie aus seiner Hosentasche hervor.
»Ich hab nämlich Geld.«
Stern schüttelte den Kopf. Erst unmerklich, dann immer heftiger.
»Doch, doch. Hab ich«, protestierte Simon. »Echt.« »Nein«, sagte Stern, wobei er allerdings nicht den Jungen, sondern Carina wütend ansah. »Darum geht es doch gar nicht, hab ich recht? Du hast mich nicht als Anwalt hierherbestellt, oder?«
Jetzt war sie es, die zu Boden starrte.
»Nein. Hab ich nicht«, gestand sie leise. Stern atmete tief aus und schmiss den unbenutzten Regenschirm zurück in den Kofferraum. Dann schob er eine Aktentasche beiseite, die darin lag, öffnete die Plastikabdeckung in der Seite und zog neben dem Verbandskasten eine Stabtaschenlampe hervor. Er prüfte den Lichtkegel, indem er ihn auf den windschiefen Geräteschuppen richtete, auf den Simon vorhin gezeigt hatte.
»Also

Weitere Kostenlose Bücher