Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
1
Unmerklich legte sich ein kühler Schleier über die Stadt.
Ein Montag ging zu Ende, so feurig heiß wie die zwei vorangegangenen Wochen, in denen keine einzige Wolke auf einen erlösenden Regenschauer hatte hoffen lassen. Schatten war knapp und die Lust, hinaus ins Freie zu gehen, verschwunden. Zu Beginn der Hitzewelle hatten Biergärten und Cafés noch gute Geschäfte gemacht. Doch nun mussten sie schon klimatisierte Plätze bieten, um Gäste zu locken.
Die Straßen vor der barocken Residenz zu Würzburg waren zu dieser späten Stunde menschenleer. Eine lähmende Schwüle machte den abendlichen Spaziergang zur Qual. Von Westen her zog Wind auf. Auf den Terrassen spürte man ihn auf schweißnasser Haut. In den Bäumen raschelten durstende Blätter, und ein Wetterhahn knarrte in seinem Lauf. Schwarze Wolken brauten sich am Horizont beunruhigend schnell zusammen. Ein Blitz schnitt den Himmel entzwei.
Der dicke Wachmann hastete schnaubend über das unebene Kopfsteinpflaster geradewegs auf das klaffende Maul der imposanten Residenz zu. Die Außenbeleuchtung war bereits abgeschaltet, sodass sie, einer Trutzburg gleich, im Sternenlicht zu schlafen schien.
Das Hemd klebte ihm am Rücken, und bei jedem Schritt drohten die Beine der ausgeleierten Sporthose ihn zu Fall zu bringen. Von Stirn und Schläfen rann ihm der Schweiß hinab und vermengte sich mit den Resten Spinat, die noch an seinem Kinn klebten.
»Verdammt«, keuchte er, als er schon von weitem sah, dass die Tür am Seitenportal offen stand. Gehetzt schaute er sich um, ob noch jemand seine Fahrlässigkeit entdeckt hatte. Doch niemand schien sich für die vergessene Tür zu interessieren, die ins Innere der Residenz führte. Auch auf dem Parkplatz, der sich über eine Fläche so groß wie drei Fußballfelder erstreckte, herrschte Leere. Lediglich ein paar Autos standen verwaist am Eingang zur Residenz-Gaststätte.
Aus der nahe gelegenen Musikhochschule waren klassische Klänge zu hören. Hinter sperrangelweit geöffneten Fenstern übten Musiker die Kleine Nachtmusik ein. Es waren die Bamberger Symphoniker, die am kommenden Samstag das alljährliche Mozartfest im Hofgarten eröffnen sollten.
Der Wachmann schleppte sich auf die verglaste Eingangstür zu. Am Türstock angekommen, sackte er erschöpft zu Boden.
»Kreuzverreck«, röchelte er, als wollte er sich auf der Stelle übergeben. »Lang mach ich des fei nimmer mit.«
Er japste nach Luft und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er holte den schweren Schlüsselbund hervor und suchte im silbern scheinenden Mondlicht, das allmählich von den aufziehenden Wolken verdeckt wurde, nach dem passenden Schlüssel.
Im dunklen Gang hinter ihm schlug plötzlich Metall auf Metall. Der Wachmann erschrak.
»Ist da jemand?«, rief er vorsichtig aus.
Er wartete, bis der Hall seiner Stimme verklungen war, um seine Frage zu wiederholen. Erneut bekam er keine Antwort.
»Wenn da jemand ist, dann raus! Sofort! Das ist meine letzte Warnung«, donnerte es nun aus seiner geschwellten Brust. Doch auch jetzt wollte sich nichts und niemand ergeben.
Der Wachmann zögerte. Er konnte sich nicht entscheiden. Sollte er hineingehen und herausfinden, was sich dort tat, oder war ein kontrollierter Rückzug angebrachter? Er dachte an sein schmales Gehalt und an seine Rolle als Ernährer und
Familienoberhaupt.
So ergriff er die Türklinke, um die Tür wieder zu schließen. Noch bevor sie zufiel, quetschte sich ein dumpfer Knall heraus, so, als wäre ein Eimer zu Boden gefallen und hätte seinen Inhalt verstreut.
Dieses Geräusch kannte er nur zu gut, um es übergehen zu dürfen. In den vergangenen zwei Monaten hatten die Restaurateure unter dem Deckenfresko einen beträchtlichen Steinbruch aufgerichtet, und der grobkörnige Dreck verteilte sich über die wertvollen Holzböden. Mit Engelszungen hatte er auf sie eingeredet, damit sie Acht gaben und Respekt hatten vor einem Bauwerk, das einzigartig war.
Nun fest entschlossen, schob er die Tür auf, brummte voller Missmut und tastete sich an der Wand entlang.
Im weiten Treppenhaus baumelte eine verdreckte Glühbirne von einem der beiden Gerüste herab und warf ihr schwaches Licht auf die vornehmen Statuen aus dem 18. Jahrhundert. Von der rechteckigen Galerie führten an den Längsseiten zwei Treppen ins Erdgeschoss hinab, die sich auf halber Höhe zu einer vereinigten. Unten am Treppenaufgang türmten sich Bauschutt und Holzlatten. Über allem thronte das rotundenförmige
Weitere Kostenlose Bücher