Das Kleine Buch Der Wahren Liebe
die Liebe. Liebe braucht eine Haltung, die wir in dem klaren Wort Jesu finden: „Halte mich nicht fest!“ Wenn sich jemand festgehalten fühlt, wird er sich gewaltsam loszureißen und zu befreien suchen. Oder er entzieht sich immer mehr der Liebe des anderen. Damit die Liebe lebendig bleibt, braucht es Nähe
und
Distanz. Es braucht nicht nur Verschmelzen, sondern auch Abgrenzung. Und es braucht das Gefühl für die tiefste Unverfügbarkeit des anderen, die Anerkennung des Geheimnisses in seiner Person - damit die Liebe atmen kann, damit sie Heimat bleibt und nicht ein Gefängnis wird.
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Der Liebende lässt dem Geliebten Zeit zu wachsen. Er verzichtet darauf, den andern so zu formen, wie er ihn gerne haben möchte. Er nimmt ihn so, wie er ist. Er nimmt ihn an, er duldet ihn mit all seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Fehlern und Grenzen. Der Ungeduldige hat bestimmte Vorstellungen vom andern. Und er meint, der andere müsse seine Vorstellungen sofort erfüllen. Wenn er ihn auf Fehler anspricht, dann müsse er sie möglichst bald ablegen. Doch diese Ungeduld tötet die Liebe. Es ist natürlich, dass wir Wünsche an den Geliebten haben. Wir hoffen für ihn, dass er weiter wächst, dass er manche Fehler ablegen kann. Aber wir lassen ihm Zeit. Wir warten, bis seine Zeit gekommen ist. Der Ungeduldige meint, der andere könne sich sofort ändern. Er bräuchte es nur zu wollen, dann würde es auch gelingen. Hinter der Ungeduld steckt ein enges Menschenbild: Der Mensch muss funktionieren. Er muss alles sofort ändern. Man lässt ihm keine Zeit zum Wachsen und Reifen. Und man weigert sich, ihn in seiner Einmaligkeit anzunehmen. Auch Fehler und Schwächen können ja etwas Liebenswürdiges sein. Aber es hängt an meiner Sicht. Wenn ich geduldig den andern sein lasse, wie er ist, dann werde ich ihn in seiner Einmaligkeit immer mehr lieb gewinnen. Und die Fehler und Schwächen sind nicht mehr so wichtig.
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Wir legen im Alltag den anderen oft fest auf das, was wir von ihm erwarten, oder auf das, was wir von ihm kennen. Da braucht es immer wieder einen Schritt zurück, aus dem Alltagsgeschehen heraus, um von dort aus einen neuen Blick auf den anderen zu werfen. Es ist kein Blick, der analysiert oder beurteilt, sondern ein Blick, der wahrnimmt, der die Wahrheit des anderen aufleuchten lässt. Wahrheit heißt im Griechischen ja
aletheia
. Das meint: Das Wesen des Seins wird der Vergessenheit entrissen. Der Schleier wird weggezogen, damit wir auf die eigentliche Wirklichkeit schauen. So geht es in der Wahrnehmung des anderen darum, den Schleier wegzuziehen, den der Alltag immer wieder auf den anderen legt und ihn uns verbirgt, damit wir ihn in seinem wahren Wesen unverhüllt schauen. Das Geheimnis des anderen wird in der Wahrnehmung der Vergessenheit entrissen. Im Alltag vergessen wir immer wieder, wer der andere eigentlich ist. Wahrnehmen heißt: Ich erinnere mich an seine eigentliche Wahrheit. Ich nehme seine Wahrheit in die Hand und trage sie gleichsam wie eine kostbare Perle in meiner Hand. Ich vereinnahme diese Perle nicht, sondern schaue auf sie als auf etwas, das so anders ist als ich und das mich doch auch an die Perle in meiner eigenen Seele erinnert.
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Es gibt einen griechischen Mythos, den uns der Philosoph Platon überliefert hat: Die Menschen hatten ursprünglich eine Kugelgestalt und wurden von den Göttern aus Eifersucht entzwei gehauen. Seitdem irren sie umher und suchen ihre andere Hälfte. In der sexuellen Liebe steckt also letztlich die Sehnsucht nach Ganzheit als letzte Motivation. Der Mann fühlt sich allein nicht als ganzer Mensch. Der Frau geht es ähnlich.
Erotik humanisiert die Sexualität. Sie bezeichnet ihre geistig-sinnliche Dimension. Bei Platon verleiht der Eros dem Seelenwagen Flügel. Er ist also eine Kraft, die uns antreibt, nicht nur zum Menschen hin, sondern auch über ihn hinaus auf Gott hin. Aristoteles, der andere große griechische Philosoph, nennt den Eros die kosmische Kraft, die alles Gegensätzliche im Menschen eint und lustvoll alles Trennende zwischen den Menschen und im Menschen überwindet. Er ist die Kraft, die den Menschen antreibt, seine eigene Bedürftigkeit und seinen eigenen Mangel aufzufüllen und so ganz zu werden.
Die Liebe will sich in der Sexualität ausdrücken. Im sexuellen Einswerden erleben die beiden Partner den Höhepunkt ihrer Liebe. Die Liebe zwischen den Ehepartnern braucht die Sexualität, um zu ihrer Vollendung zu kommen. Wenn die
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