Das Kleine Buch Der Wahren Liebe
auf. Sie möchte diese Liebe am liebsten festhalten. Sie umarmt Jesus. Doch der sagt: „Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen“ (Joh 20,17). Jesus grenzt sich also ab. Er lässt sich nicht festhalten. Aber diese Abgrenzung zerstört nicht die Beziehung. Vielmehr ermöglicht sie eine Beziehung auf einer anderen Ebene. Im anderen ist immer etwas, das unserem Zugriff entzogen ist. Dieses Innerste, das auch in uns ist, diesen inneren Raum des Schweigens, der ist für andere unzugänglich, den dürfen wir getrost abgrenzen. Maria von Magdala fühlt sich |73| von Jesus in Liebe angesprochen. Sie ist ihm begegnet. Sie hat eine neue Qualität von Beziehung erlebt. Diese macht sie glücklich und frei. Sie kann Jesus loslassen, weil das Wort der Liebe, das sie gehört hat, stärker ist als das Nein der Abgrenzung. Das Nein der Abgrenzung vertieft ihre Liebe.
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Es braucht immer eine gute Balance zwischen Nähe und Distanz. Wenn ich nur Distanz zum anderen halte, dann verhungert er. Ein Mann erzählte, er sei erfroren neben seiner Frau. Denn er war nie gut genug. Sie hat immer nur das gesehen, was ihm fehlt. Sie hat nicht verstärkt, was in ihm ist. Und sie konnte ihm vor lauter Urteilen und Bewerten keine Wertschätzung geben und keine Nahrung und keine Wärme. Es braucht immer ein gutes Miteinander von Nähe und Distanz. Die Nähe des anderen nährt uns. Aber wenn sie zum Festklammern wird, wird die Nahrung einseitig und ungesund. Ein symbiotisches Zusammenleben führt dazu, dass einer vom anderen lebt. Aber damit werden andere Quellen abgeschnitten, die auch noch nähren könnten. Die Quelle des anderen wird irgendwann erschöpft und dann wird die Symbiose zu einem sterilen und unfruchtbaren Miteinander.
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Die Beziehung zum Partner oder zur Partnerin bleibt nur lebendig, wenn wir unsere eigenen Bilder überspringen und offen sind für das bildlose Geheimnis des anderen. Wenn ich den anderen auf ein Bild festlege, wird es bald langweilig mit ihm. Ich kenne alle seine Verhaltensweisen, habe für jedes Wort und jedes Verhalten des anderen eine Erklärung.
Die Bildlosigkeit in der Beziehung ist die Voraussetzung, dass ich neugierig bleibe auf den anderen, offen für sein Geheimnis. Max Frisch hat das als das Geheimnis wahrer Liebe entdeckt. „Die Liebe befreit aus jeglichem Bildnis“, schreibt er in seinem ersten Tagebuch. Und seine Tochter Ursula Priess, die diesen Satz zitiert, fügt im Buch über ihren Vater – das auch ein Buch ist über die Schwierigkeit ihrer Beziehung zu ihm - hinzu: „Einzig in der Liebe ist es möglich, sich kein Bild zu machen.“
|76| Oft stülpen wir dem anderen unsere eigenen Bilder und Wünsche über und lieben dann mehr das Bild, das wir uns vom anderen gemacht haben, als ihn, wie er in Wirklichkeit ist. Den anderen so lieben, wie er ist, das ist nicht leicht. Es verlangt, Abschied zu nehmen von allen Illusionen, die ich mir über ihn gemacht habe. Und es verlangt auch den Abschied von der Illusion, dass Liebe immer ein wunderbares Gefühl ist. Oft ist sie einfach Treue zum andern. Das ist mehr als ihn nur zu ertragen. Sie bedeutet: Ja sagen zu ihm in seiner Durchschnittlichkeit und Banalität.
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Verliebtsein bringt mich in Berührung mit der Liebe, die in mir ist. Aber Verliebtsein ist noch nicht die reine Liebe. Im Verliebtsein ist – so meint C. G. Jung – noch Projektion mit im Spiel. Ich projiziere meine Sehnsüchte in den anderen hinein. Ich liebe in der Frau, in die ich mich verliebt habe, letztlich mich selbst. Ich liebe das in mir, was in mir ist, was ich aber vernachlässigt habe. Die Frau, in die ich mich verliebt habe, erinnert mich an das Vernachlässigte und Übersehene in mir. Die Aufgabe für mich wäre also, dass ich das, woran die Frau mich erinnert, in mir bewusst wahrnehme und entfalte. Dann kann sich das Verliebtsein in Liebe wandeln. Der erste Schritt ist, dass ich unabhängiger von meinem Verliebtsein werde. Die Liebe, die ich zu der Frau empfinde, bringt mich in Berührung mit dem Potenzial meiner eigenen Seele. Und so werde ich frei, die Frau so zu sehen, wie sie wirklich ist. Im Verliebtsein liebe ich letztlich mein eigenes Bild in der Frau. Von dieser Liebe gilt, dass sie blind macht. Denn ich sehe nicht die Frau, sondern mich selbst in ihr. Wenn ich die Projektion zurücknehme, dann werde ich fähig zur wirklichen Liebe.
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Eine Liebe, die klammert, engt den anderen ein und erstickt allmählich
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