Das Kleine Buch Der Wahren Liebe
von der Lähmung durch die Fixierung auf die Nichterfahrung von Liebe.
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Der Philosoph Gabriel Marcel meint einmal von der Liebe: „Lieben heißt zum andern sagen: Du, du wirst nicht sterben.“ In jeder Liebe ist die Ahnung, dass die Liebe stärker ist als der Tod. Und es ist Überzeugung der Christen, dass wir uns im Tod wieder sehen werden. Es gibt Briefe von Widerstandskämpfern im Dritten Reich, die vor ihrer Hinrichtung an ihre Frauen und Kinder voller Vertrauen geschrieben haben: „Wir werden uns wieder sehen.“ Sie waren überzeugt, dass die Henker zwar ihr Leben vernichten konnten, aber nicht ihre Liebe. Ihre Liebe überdauerte den Tod. Der Tod trennte die Liebenden nur leiblich, aber er konnte die Liebe nicht zerstören. Und diese Liebe wird ihre Vollendung in der Ewigkeit finden.
Wir dürfen also vertrauen, dass unser Personsein im Tod bleiben wird. Allerdings dürfen wir unser Personsein nicht mit dem Ego verwechseln. Das Ego wird im Tod zerbrechen. Bleiben wird unser wahres Wesen, unser innerster Kern, unser Selbst. Wie das genau aussehen wird, das können wir nicht sagen. Wir müssen bei all dem, was wir über den Tod und die Ewigkeit aussagen können, immer wissen, dass unsere Worte nur Bilder sind für das Unsagbare und Unbegreifliche.
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In seinem „Gottesstaat“ wagt Augustinus eine Formulierung über das Leben nach dem Tod: „Dort werden wir ausruhen und sehen, sehen und lieben, lieben und loben. Das ist das Wesen des Endes ohne Ende. Denn welches Ende entspräche uns mehr als in das Reich zu kommen, das kein Ende kennt?“ Im Wissen, dass die christliche Tradition immer gewusst hat, dass alle Versuche nicht angemessen sind, das auszudrücken, was uns im Untergang des Todes neu aufgeht, können wir in dieser Richtung, die uns die christliche Tradition angibt, doch denken und glauben, dass es die Liebe ist, die uns im Tod begegnen wird.
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In allen Menschen aller Religionen und Kulturen ist diese Hoffnung da, dass die Liebe stärker sei als der Tod. Im Alten Testament heißt es im Hohenlied der Liebe: „Stark wie der Tod ist die Liebe, die Leidenschaft ist hart wie die Unterwelt.“ (Hld 8,6) Nun könnte man sagen, diese Hoffnung sei eine emotionale Hilfe für die Menschen. Mit dieser Hoffnung können sie an ihrer Liebe festhalten. Doch wenn die Hoffnung ein bloßer Trick ist, damit die Menschen lieben können, dann wäre das zu wenig. Es ist eine Frage der Entscheidung, ob wir unserer Hoffnung trauen oder ob wir sie nur als psychologischen Trick der Natur ansehen. In der Hoffnung liegt zumindest das Vertrauen, dass sie nicht ins Leere geht, sondern der Wirklichkeit entspricht. Aber beweisen kann man das nicht. Das ist Sache des Glaubens.
Natürlich ist die Alternative denkbar: dass nicht die Liebe, sondern der schweigende Unsinn die letzte Realität ist. Aber wenn ich diese Alternative zu Ende denke, mit allen Konsequenzen, dann steigt in mir ein tiefes Gefühl hoch, dass es so nicht sein kann. Oder zumindest kann ich mir vorsagen: „In dieser Welt, wo alles letztlich Unsinn ist, will ich nicht leben. Ich entscheide mich für eine andere Welt, für die Welt, in der die Liebe die letzte Realität ist.“ Ob diese Entscheidung der Wahrheit entspricht, werde ich immer wieder in meinem Leben erfahren. Ich lebe mit dieser Entscheidung und beobachte mich, wie es mir mit dieser Entscheidung geht. Und |151| ich habe den Eindruck, dass es mir damit besser geht als mit der gegenteiligen Entscheidung. Aber ich werde auf diesem Experimentierweg immer wieder auch Bestätigungen erfahren, dass das Experiment der Wirklichkeit gerecht wird. Wenn ich mitten in meiner Einsamkeit, in meiner Traurigkeit, in meiner Verzweiflung auf dem Grund meiner Seele eine Quelle von Liebe spüre, dann weiß ich: Es stimmt. Die Liebe ist der letzte Grund meines Lebens, der Grund, auf den ich setzen kann. Es ist letztlich ein göttlicher Grund. Es ist nicht nur das Gefühl meiner Liebe, sondern die Liebe als Qualität des Seins, die Liebe als göttliche Qualität.
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Erlösung – im Tod wird sie endgültig sein. Mein Glaube ist: Da werden alle Fesseln gelöst. Da werde ich ganz frei und ganz echt und nur noch reine Liebe sein. Da werde ich für immer eins mit Gott und mit mir selbst und mit all den Menschen, die ich je geliebt habe. Da erlebe ich in der Grenze zu Gott gleichzeitig die göttliche Aufhebung aller Grenzen. Die Hoffnung auf die endgültige Erlösung bedeutet kein Überspringen dieser
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