Das Königsmal
preschte über das Pflaster heran. Schnell schlüpfte sie in das Gesindehaus und schloss die Tür hinter sich. Einem Schatten gleich verschwand sie in den langen Korridoren. Im Halbdunkel leuchteten die grauen Strähnen ihres Haares wie Silberfäden auf.
Im fernen Münster kamen auch an diesem Morgen die Gesandten der europäischen Mächte zusammen. Die hohen Herren und Diplomaten in ihren schwarzen Röcken verhandelten über einen Frieden für das verwüstete und ausgeblutete Europa. Sie vertraten den Kaiser, mehrere Könige, viele Fürsten und Grafen, die ersten Republiken und einige freie Städte.
Endlose Streitereien um Titel, Anreden und die besondere Bedeutung der jeweiligen Mission hatten dazu geführt, dass sich der Kongress über Jahre nur um sich selbst gedreht hatte. Wie ein toller Hund, der einem verlockenden Bissen nachjagte und nicht merkte, dass er nach dem eigenen Schwanz schnappte.
Und dennoch bahnte sich eine neue Zeit ihren Weg. Der Westfälische Friede sollte endgültig zunichte machen, wofür König Christian IV. zu seinen Lebzeiten gekämpft hatte. Dänemarks Zenit als europäische Macht war überschritten. Verblasst der Glanz der alten Seemacht. Dahin der strahlende Mythos des dänischen Königs.
DIE PROPHEZEIUNG
Barl in Holstein, Sommer anno 1621
Es war wie ein Zeichen gewesen. Der Komet, ein Bote des Unheils, war über ihre Köpfe hinweggerast. Sein feuriger Schweif hatte den Himmel geteilt, als ob er das Gute vom Bösen scheiden wollte. Dann regnete es Schwefel.
„Es wird ein Unglück geschehen“, sagten die Erwachsenen. Ihre Stimmen hatten sich verändert, Sorge schwang darin, die Angst vor dem Werk des Teufels. Die Kinder fürchteten sich.
Das Mädchen blickte zum Himmel hinauf. Drei Jahre waren inzwischen vergangen, ohne dass ein Dämon durchs Land gezogen wäre. Klar und strahlend spannte das Himmelstuch sein festliches Gewölbe über den Apfelbaum. Nicht eine Wolke trübte den Blick auf seine unendliche Herrlichkeit.
„Gott ist groß“, summte das Kind, und plötzlich fühlte es das Glück. Für einen Moment vergaß es die Ängste der Welt, jede Furcht vor einem großen Krieg. Leise kichernd kletterte es noch höher in den alten, knorrigen Baum. Hier oben wird mich niemand finden, dachte die Kleine, zufrieden mit ihrem Versteck, und schlug die Arme fest um den Stamm. Dann sog sie den Duft ein, der sie wie eine Wolke umfing, und schloss – ganz und gar überwältigt – für einen Moment die Augen.
Gerade noch hatte ein Kleid aus Tausenden von Blüten den Baum bedeckt, jetzt lagen bereits winzige grüne Früchte in einem Bett aus dunklen Blättern. Sauer und hart. Im Herbst würde sie die Äpfel mit der Mutter pflücken und auf einem Brett in der Vorratskammer lagern. Wenn die Ernte gut ausfiel, sollte das Obst bis zum nächsten Frühjahr reichen. Eine rotwangige Erinnerung an die Freuden des längst vergangenen Sommers. Zu Weihnachten schob die Mutter Bratäpfel in den Ofen. Der Duft zog dann durch alle Stuben des Bauernhauses und verkündete eine frohe Botschaft.
Vorsichtig blinzelte das Mädchen zwischen den Blättern hervor. Wer die Kleine dort oben entdeckte, sah ein fröhliches Gesicht, aus dem die goldgesprenkelten Augen neugierig herauslachten. Doch die anderen Kinder suchten auf der Wiese hinter dem Haus nach ihrem Versteck.
„Wiebke, Wiebke, wir finden dich“, drohten die beiden Nachbarsjungen wild, obwohl sie mit ihren Stöcken vergeblich durch das hohe Gras peitschten. Nur den Kater, der sich in der Mittagssonne gerekelt hatte, schlugen sie in die Flucht. Mit einem Satz jagte er davon, und das Mädchen lachte über so viel Glück.
Wiebkes Blick glitt über den Hof des Vaters mit seinem reetgedeckten Haus zum Fluss, auf dem das Sommerlicht wie ein Schleier schwamm. Das Wasser der Au floss träge durch das Dorf, ähnlich einem schwarzen Band. Es stand nur wenige Fuß hoch, doch schon im nächsten Frühjahr würde das Hochwasser wieder für Schrecken im Dorf sorgen, die Weiden überfluten und sich gefährlich nah an ihren Besitz heranwälzen.
Links und rechts des Flusses reihten sich die Höfe der Nachbarn, die stolzen Häuser der freien Bauern, hinter ihnen duckten sich die Hütten der Tagelöhner. In der Hitze war das Gras der Wiesen welk geworden. Die Zweige der Weidenbüsche hingen erschöpft übers Ufer, als suchten sie Abkühlung im Wasser. Schatten bot nur der dichte Wald, der das Dorf von den umliegenden Ortschaften trennte.
Gerade erst waren die
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