Das Königsmal
bevor sie gemeinsam in die Stadt zur Kirche fahren konnten.
Die Eltern hatten alles getan, um das Kind vor jedem Unheil zu beschützen, das einer ungetauften Seele widerfahren konnte. Der Bauer hatte gleich eine Furche um das Haus gepflügt, über die nach altem Brauch nichts Böses hereinbrechen sollte. Natürlich hatten sie auch ein Kreuz an die Wiege gemalt. Keiner durfte herein, um die Kleine zu sehen, der nicht vor der Tür den Staub abklopfte und erst zum Feuer ging, bevor er an die Wiege trat. Nacht für Nacht ließ man ein Licht brennen und hielt Wache, damit der Teufel nicht in einem unbeobachteten Moment über das Mädchen kommen konnte.
„Am letzten Tag vor der Taufe“, fuhr die Mutter fort, „waren die Männer zum Heumachen auf der Wiese hinten beim Wald. Die Magd saß neben mir, als wir eine Kuh auf der Weide brüllen hörten. Das Mädchen rannte hinaus und ließ mich für einen Moment allein. Ich hatte gerade ein wenig geschlafen und war erst von dem Lärm aufgewacht. Plötzlich schlug die Tür auf und die Zigeunerin stand im Raum.“
Noch immer begann ihr Herz zu schlagen, wenn sie an die frem- de Frau dachte. Sie hatte wirklich geglaubt, der Leibhaftige sei ihr erschienen. Pechschwarze Augen funkelten in einem blassen Gesicht, langes, dunkles Haar fiel ihr wild über die Schultern. Vor Angst schrie sie auf. Doch die Fremde hatte sie mit leiser Stimme beruhigt: „Ihr sollt Euch nicht fürchten. Ich werde Euch kein Leid antun. Bin bloß gekommen, um nach einem Kanten Brot für meine Kinder zu fragen.“
Die Bettlerin hatte sich wirklich ganz harmlos gegeben, aber als sie mit schnellen Schritten an das Bett des Kindes gehuscht war, schlug sie erstaunt die Hände über dem Kopf zusammen.
„Da liegt ja ein gezeichnetes Kind“, rief sie. „Es trägt das Königsmal auf der Stirn.“
„Ein Mal?“, fragte die Bäuerin bestürzt, denn sie konnte nichts Ungewöhnliches an ihrer kleinen Tochter finden. Sie sah so rein und unschuldig aus wie jedes Kind, das so kurz nach der Geburt noch zwischen Himmel und Erde zu schweben schien. Noch nie hatte sie etwas so Seltsames gehört. „Was soll das bedeuten?“
Die Fremde hatte inzwischen ein abgegriffenes Kartenspiel aus ihrem Rock gezogen und warf drei schmutzige Karten auf die Wiege.
„Eure Tochter ist besonders, sie ist vom Schicksal gezeichnet. Seht doch, was die Karten sagen: Sie wird einen alten Mann, einen hohen Herrn, heiraten und durch ihn zu Reichtum kommen. Aber sie wird weite Wege gehen müssen, bis es so weit kommt“, las sie aus dem Blatt. „In meinem ganzen Leben habe ich erst einen Menschen getroffen, der ein ähnliches Mal trug. Ein hoher Herr, der über viele Menschenleben richtete.“
„Schweigt, um Gottes willen, schweigt“, bat die Bäuerin sie entsetzt. Vor Angst um ihr Kind begann sie zu zittern. Dann ging die Tür auf und die Magd kam wieder herein. Als das Mädchen die Zigeunerin erblickte, sank es vor Schreck fast auf die Knie. Doch die Mutter hatte sich schon wieder gefasst. Hastig lief sie in die Kammer und drückte der Fremden dann ein Stück Speck, Eier und einen Laib Brot in die Hände. Nur fort mit der düsteren Gestalt und ihren unheimlichen Prophezeiungen.
Von der Tür aus rief ihr die Wahrsagerin noch einen Dank für die Almosen zu, dann verließ sie das Haus und verschwand im Wald. Die Magd aber warf ihr heimlich ein Stück glühender Kohle nach. Sie zog das Kind um und räucherte Stube und Wiege mit Wacholder aus, um das Böse zu vertreiben.
„Wir verabredeten, niemandem etwas von der Prophezeiung zu erzählen, bevor die Kleine nicht getauft war“, beendete die Bäuerin ihre Erzählung. Sie hakte sich bei ihrem Mann ein, als ob sie Schutz suchte, und er zog sie liebevoll an sich.
„Ihr könnt von Glück sagen, dass alles gut ausgegangen ist“, bestätigte die Schulmeisterfrau, die mit offenem Mund zugehört hatte. „Das Zigeunervolk bringt selten Gutes ins Haus. Es soll auch so manche Hexe mit dunklen Zauberkräften darunter sein. Die Gespielinnen des Teufels bringen Schaden über Kinder, Vieh und Ernte.“
„Es ist wohl nicht so schlimm, wie man glaubt“, hörte Wiebke ihre Mutter sagen. „Sosehr mich das Weib damals erschreckt hat, passiert ist doch nichts. Und später habe ich mich viel weniger vor diesem Volk gefürchtet. Sie haben uns niemals Leid zugefügt. Die Frau selbst habe ich übrigens nie wieder gesehen.“
Atemlos hatte das Mädchen hinter seinem duftenden Blättervorhang den Worten
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