Die oder keine
1. KAPITEL
Was für ein herrlicher Tag, dachte Jason, als er nach draußen ging. Endlich war es Frühling geworden. Der Himmel war blau, die Vögel zwitscherten, und die Stadt, die zwischen nunmehr grünen Hügeln eingebettet lag, hatte noch nie besser ausgesehen.
An einem solchen Tag muss man einfach zufrieden sein, entschied Jason, als er den Weg entlangging und den Bürgersteig betrat.
Und dennoch …
Man kann im Leben nicht alles haben, mein Sohn, hörte er seine Mutter sagen.
Wie Recht sie doch gehabt hatte!
Er wurde traurig, als er an sie dachte und daran, wie unglücklich ihre Ehe gewesen war.
Mit achtzehn hatte sie seinen Vater geheiratet, einen Trunkenbold und Spieler. Bereits mit dreißig war sie Mutter von sieben Söhnen gewesen, und ein Jahr später hatte sein Vater sie verlassen. Mit fünfzig war sie bereits eine alte Frau gewesen, und vor fünf Jahren war sie an einem Schlaganfall gestorben.
Sie war erst fünfundfünfzig gewesen.
Er, Jason, war der Jüngste und hatte bereits als Teenager den Ehrgeiz gehabt, einmal reich zu werden. Studiert hatte er nicht wegen seiner Liebe zur Medizin, sondern wegen seiner Liebe zum Geld. Seine Mutter hatte immer den Einwand erhoben, es wäre kein Grund, um Arzt zu werden.
Wie gern hätte er ihr noch gesagt, dass er doch ein guter Arzt geworden und mit seinem Leben zufrieden war, auch wenn er nicht reich geworden war.
Richtig glücklich war er allerdings nicht. Doch das erwartete er auch gar nicht mehr.
„Morgen, Dr. Steel. Schön heute, nicht?”
„Und ob, Florrie.” Florrie war eine seiner Patientinnen. Sie war um die siebzig und kam jede Woche in seine Praxis, um über eines ihrer zahlreichen Gebrechen zu sprechen.
„Muriel hat anscheinend viel zu tun.” Florrie deutete zur Bäckerei auf der anderen Straßenseite. Davor stand ein Bus, und die Insassen verließen gerade mit Tüten beladen das Geschäft.
Tindleys Bäckerei war im ganzen Umkreis bekannt, seit sie vor einigen Jahren den ersten Preis für die beste mit Hackfleisch ge füllte Pastete in Australien gewonnen hatte. Seitdem machten viele Reisende, die auf dem Weg von Sydney nach Canberra waren, einen Abstecher nach Tindley, um Pasteten zu kaufen.
Der Besucherstrom hatte auch dazu geführt, dass nun in den ehemals leer stehenden Geschäften entlang der schmalen, ge wundenen Hauptstraße Kunsthandwerk angeboten wurde. Die Gegend um Tindley war bei Künstlern wegen ihrer Schönheit schon immer beliebt gewesen, doch vorher hatten diese ihre Werke an Geschäftsleute in den Touristenorten an der Küste verkaufen müssen.
Als Folge der wachsenden Popularität der Stadt hatten sich dort noch mehr Geschäftsleute niedergelassen, so dass es nun außerdem ein Teegeschäft, mehrere Imbisse, einige gute Restaurants und sogar eine Pension gab, in die vorwiegend Leute aus Sydney kamen, um am Wochenende auszuspannen.
Noch vor fünf Jahren praktisch eine Geisterstadt, war Tindley jetzt eine wohlhabende kleine Gemeinde mit einer florierenden Wirtschaft. Vor fünf Monaten hatte Jason sich in die Praxis des alten Doc Brandewilde eingekauft und es nicht einen Moment bereut.
Da er vorher zwölf Stunden am Tag in einer gut gehenden Praxis in Sydney gearbeitet hatte, in der die reinste Massenabfertigung geherrscht hatte, war es ihm zuerst schwer gefallen, sich an das gemäßigte Tempo zu gewöhnen und sich mehr Zeit für seine Patienten zu nehmen.
Mittlerweile konnte er sich kaum noch vorstellen, einem Patienten weniger als fünfzehn Minuten zu widmen. Außerdem waren es keine namenlosen Gesichter mehr, sondern Menschen, die er kannte und mochte - Menschen wie Florrie zum Beispiel.
Mit ihnen zu plaudern machte einen großen Teil der Tätigkeit eines Hausarztes auf dem Lande aus.
Der Bus fuhr los und rollte langsam davon.
„Hoffentlich hat Muriel nicht mein Mittagessen verkauft”, meinte Jason.
Florrie lachte. „Das würde sie niemals tun, Doktor. Sie sind doch ihr Lieblingskunde. Gerade neulich hat sie zu mir gesagt, wenn sie dreißig Jahre jünger wäre, brauchten Sie Marthas Kuppelversuche nicht mehr über sich ergehen zu lassen, weil sie Sie sich längst geschnappt hätte.”
Nun musste er auch lachen. Martha war nicht die Einzige, die ihn zu verkuppeln suchte.
Seine Ankunft in der Stadt hatte bei der weiblichen Bevölkerung zu allerhand Spekulationen geführt. Offenbar kam es nicht oft vor, dass ein attraktiver Junggeselle unter vierzig, der keine Freundin hatte, hierher zog. Und da er erst
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