Das Kopernikus-Syndrom
das Attentat auf dem Bildschirm zu sehen, ein besserer Beweis seiner Wahrhaftigkeit wäre, als es selbst erlebt zu haben. Schließlich war ich schizophren, selbst das Fernsehen war glaubwürdiger als ich.
Ich sah auf dem Fernsehschirm die Bilder vom SEAM-Turm, der mitten in La Défense einstürzte. Auf allen Kanälen, aus allen Perspektiven. Stundenlang. Und ich wusste jetzt, dass ich nicht geträumt hatte.
Es gab ungefähr zehn Versionen desselben Alptraums. Die Perspektiven waren unterschiedlich, auch die Rahmen, aber es war immer die gleiche Szene. Der Einsturz, langsam, unwirklich, dann der dichte Rauch, wie eine Atomwolke, die sich über den Westen von Paris erhob. Dann die Schreie der machtlosen Zuschauer. Die aufgelösten Stimmen der Journalisten. Ich zappte durch die Sender. Der Kontrast veränderte sich leicht, aber die Bilder blieben gleich. Immer dieselben Aufnahmen. Die der Überwachungskameras und jene, die verblüffte Touristen spontan schossen. Bilder, die ich sicher deutlicher gesehen hatte als jeder andere. Ein paar Meter von mir entfernt.
Ich hörte verblüfft die Kommentare der Sprecher mit ihren unheilschwangeren Stimmen. Dieses Mal waren sie wirklich echt. Ich hörte die Hypothesen, die bereits aufgestellt wurden. Natürlich sprach man über die SEAM, die Eigentümerin des Turms: eine europäische Rüstungsfirma, ein passendes Ziel für ein terroristisches Attentat. Dann stellte man Vergleiche mit anderen Attentaten an. Der Saint-Germain Drugstore 1974, die Synagoge in der Rue Copernic 1980, dann zwei Jahre später die in der Rue des Rosiers. 1995 der U-Bahn-Zug bei Saint-Michel und natürlich das World Trade Center in New York, gefolgt von den Attentaten in Madrid und London. All diese Angriffe wurden islamistischen Extremisten angelastet, Abu Nidal, GIA und Al Qaida. Zwangsläufig mutmaßte man bei diesem Attentat die gleiche Spur, die islamistische. Ich weiß nicht genau, was das im Grunde bedeuten soll. Ich habe noch nie etwas von Religionen begriffen.
Mehrere Male wurde ein Statement des Innenministers Jean-Jacques Farkas gesendet: ein alter Mann mit hartem Blick und verschlossener Miene, der die üblichen Beteuerungen abgab. Man werde die Terroristen finden und verurteilen, den Fall restlos aufklären …
Dann wurden die Opfer erwähnt. Man zeigte Fotos mit dem Gesicht der Toten, auf alten Fotos sah man sie lächeln. Das Drama musste menschlich gemacht werden. Man zeigte auch die Familien, die ungeduldig auf eine Antwort warteten. Der Journalist unterhielt sich mit einem auf Traumata nach Attentaten spezialisierten Psychologen. Man sprach von Ängsten, Depressionen und Rücktritten.
Dann folgten die Analysen der politischen und wirtschaftlichen Folgen. Man sagte Erschütterungen der internationalen Beziehungen, der Börsen und so weiter voraus. Wieder etwas, wovon ich noch nie etwas verstanden habe: die Börse. Aber all das ist normal, und ich bin derjenige, der irre ist, nicht wahr?
Es folgte eine kurze Reportage über die SEAM, die europäische Rüstungsfirma für Waffen aller Art, deren Hauptaktionär der französische Staat war. Die SEAM, mit einem Umsatz über 400 Millionen Euro, galt als zweitgrößter Waffenexporteur Europas. Ihren Hauptgewinn erwirtschaftete sie durch Waffenverkäufe in Entwicklungsländer. Man konnte sich gut vorstellen, dass der Turm ein politisches und wirtschaftliches Symbol für Terroristen hätte darstellen können, aber das war noch unklar. Vielleicht sah man im SEAM-Turm auch nur die Verkörperung des westlichen Imperialismus.
Wie auch immer, die Journalisten verkündeten eilends, dass entsprechend den Erklärungen des Innenministeriums die Jagd auf die Terroristen begonnen habe. Bestimmt gab es Menschen, die das beruhigte.
Für mich blieb die Zeit stehen, ich war wie hypnotisiert von den Bildern.
In diesem Augenblick befand ich mich in der tiefsten Vorhölle meiner Schizophrenie. Ich wiederholte dieselben Sätze, schwelgte in denselben Gedanken. Dieselbe Idee, unaufhörlich wie eine äußere Stimme, unbehandelbar, eine Obsession. Das Ende aller Dinge. Meine eschatologische Angst.
Denn so habe ich sie schließlich getauft: meine eschatologische Angst. Nachdem ich in den Lexika geblättert hatte, fand ich eines Tages den Begriff, der meiner größten Angst entsprach. Aus dem griechischen eskhatos , letzte, und logos , Rede. Die Eschatologie ist die Gesamtheit der Lehren und Glaubensrichtungen über das allerletzte Schicksal des Menschen. Über
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