Das Kopernikus-Syndrom
sich vor zwei Jahren in der Cafeteria des Hauses kennengelernt hatten, zur selben Zeit an. Sie trafen sich am Ausgang der U-Bahn, liefen dann gemeinsam bis zu ihren jeweiligen Büros, sprachen über ihre Tagesstimmung und berichteten einander von den Abenteuern des Vortages. Dann trennten sie sich bis zum Mittagessen.
Um 8.04 Uhr standen dicht aneinandergedrängt viele Leute vor den grauen Türen der Aufzüge. Überwiegend immer dieselben, wie Patrick Ober, ein alleinstehender schweigsamer leitender Angestellter, fünfzig. Er besaß einen hohen IQ, aber eher dürftige soziale Qualitäten. Er war ein starker Raucher, Fernsehfreak und besessener Leser. Oder Marie Duhamel, eine Sekretärin mit gepflegtem Haarknoten, die sich ständig von den Blicken der anderen verfolgt fühlte und bei der Vorstellung, jemandem – womöglich ihrem Chef – zu missfallen, in Panik geriet. Oder Stéphane Bailly, ein Handelsreisender, der sich vor ein paar Monaten in Paris niedergelassen hatte und dessen junge Frau zu Hause blieb, um die beiden Kinder zu hüten, weil sie in der Hauptstadt noch keine Kinderkrippe gefunden hatten … Ganz gewöhnliche Frauen und Männer, so unterschiedlich und doch so ähnlich zugleich.
Um 8.05 Uhr beschloss der Mann hinter der langen dunklen Empfangstheke, den alle Monsieur Jean nannten und der in Wahrheit Paboumbaki Ndinga hieß, endlich nach Hause zu gehen. Der kongolesische Wachmann im marineblauen Anzug warf den kleinen Pappbecher weg, aus dem er seinen Kaffee getrunken hatte, und verabschiedete sich von den vier bereits stark beschäftigten Hostessen. Er arbeitete seit der offiziellen Eröffnung des Turms im Jahr 1974 hier. Die verschiedenen Gesellschaften, die sich als Betreiber abgelöst hatten, übernahmen ihn stets, denn er war gewissenhaft und charmant und kannte das riesige Gebäude wie seine Westentasche. Er nannte es seinen Turm, denn niemand kannte seine Geschichte, seine Geheimnisse, seine verborgenen Winkel besser als er. Wenn ein Angestellter später als gewöhnlich mit Ringen unter den Augen kam, zog er nur spöttisch die Augenbrauen in die Höhe.
Um 8.06 Uhr legte ein Bote, der sich nicht einmal die Mühe machte, den Motorradhelm abzusetzen, sorgfältig verpackte Pakete auf die Theke. Etwas weiter entfernt unterhielten sich Amerikaner in lässigen Anzügen mit lauten, näselnden Stimmen. Ein Mann trug einen weißen Kittel, die jungen Leute Hemden und bunte Krawatten, eine Brille, einen Kuli in der Tasche und ein Handy am Gürtel. Zweifellos Informatiker.
All diese Männer und Frauen vollführten automatisch die Gesten, die sie jeden Morgen tausendmal ausgeführt hatten, einer Routine folgend, die nicht einmal die sommerliche Trägheit durchbrechen konnte. Es war das Ritual des Wochenbeginns, das tägliche Einerlei in einem der beiden größten europäischen Geschäftsviertel, mit seinen Verzögerungen, seinen Vergesslichkeiten, seinen Überraschungen, seinen Verabredungen, seinem Gedränge, seinen lächelnden und seinen erschöpften Gesichtern … einfach mit seinem Leben.
Es schien ein Morgen wie jeder andere zu sein. Ein Sommermorgen.
Und doch verwandelte sich genau um 8.08 Uhr, als sich die metallenen Flügeltüren in der lärmenden Eingangshalle des SEAM-Turms schlossen und einer der Aufzüge Leute wie Laurent Huard, Anuschka Marek und Patrick Ober in die oberen Stockwerke brachte, dieser ganz gewöhnliche Morgen in eine unbeschreibliche Hölle.
In drei verschiedenen Etagen des Gebäudes gingen drei versteckte Bomben gleichzeitig in die Luft.
02.
Eine ohrenbetäubende Detonation brachte den Boden wie ein heftiges Erdbeben zum Wanken. Im Druck der Explosionen zerbarsten die meisten Fenster der Gebäude des Nordflügels, und Trümmer flogen durch die Luft. Unter den ungläubigen Blicken Tausender Menschen verdüsterte sich der Himmel auf einen Schlag.
Die Bomben explodierten im Erdgeschoss, im 16. und im 32. Stockwerk des Wolkenkratzers. Da alle drei in der Nähe des Mittelteils versteckt waren, wurde das Gebäude in seiner ganzen Breite beschädigt. Drei klaffende Löcher an der Süd- und Ostfassade ließen riesige Feuerkugeln und dichten schwarzen Rauch entweichen.
Der Brand breitete sich sofort aus, und die Temperatur im Inneren des Turms stieg auf über 900 Grad. Das Stützwerk hielt nicht lange stand, viel weniger lange, als nötig gewesen wäre, um Leben zu retten. Nach den allgemeinen Sicherheitsvorschriften für Gebäude dieser Höhe müssen die Grundmauern
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