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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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nachzudenken, in einem schweren Schockzustand. Mein Instinkt befahl mir lediglich, mich weit von diesem schwarzen Rauch zu entfernen, der zum Himmel aufstieg. Weit weg von den Trümmern, die unaufhörlich herunterstürzten. Trotz des Dröhnens in meinen Ohren hörte ich hinter mir den Lärm der Katastrophe: das Reißen der Bleche, das Splittern von Glas, die Alarmsirenen. Der Turm stand noch, er fiel erst ein paar Minuten später.
    Ich verließ die brennende Esplanade von La Défense, steuerte auf Courbevoie zu und stieg, ohne zu merken, was ich tat, in einen Bus. Die Polizei hatte das Gebiet noch nicht abgeriegelt, und noch wussten nicht alle Leute, was geschehen war. Sie erzählten sich das Wenige, das sie gehört hatten, und stießen ungläubige, entsetzte Schreie aus. Die Kakophonie breitete sich bis in den Bus aus. Unter dem verblüfften Blick der anderen Fahrgäste setzte ich mich in die letzte Reihe und hüllte mich die ganze Fahrt über in Schweigen.
    Sie betrachteten mich und wagten nicht, mich anzusprechen. Die meisten hingen an ihren Handys und erfuhren auf diese Weise vom Ausmaß des Attentats. Einige hatten sicher erraten, dass ich direkt aus dieser Hölle kam. Aber sie sagten nichts. Sie sagen nie etwas. Sie ließen mich in Ruhe und wandten den Blick ab.
    Als wir Paris erreichten, sprang ich aus dem Bus und ging oder vielmehr taumelte bis ins 8. Arrondissement. Auch dort warfen mir die Menschen manchen Seitenblick zu. Aber ich war für sie nur irgendein seltsamer Vogel im Pariser Großstadtdschungel. Die glutheiße Sommerluft war inzwischen von Panik und Unverständnis erfüllt. Man merkte es an der Haltung der Menschen, an den Verkehrsstaus.
    Automatisch ging ich den Boulevard Malesherbes hinunter und gelangte in die Rue Miromesnil, wo ich mit meinen Eltern wohnte.
    Ja. Mit meinen Eltern. Mit sechsunddreißig Jahren lebte ich immer noch bei ihnen. Nicht, dass es mir Vergnügen bereitet hätte, aber eine Freiheit, die ich aufgrund meiner Schizophrenie opfern musste, war die Unabhängigkeit.
    In diesem Augenblick kam ich wieder zu mir. Mehr oder weniger. Auf der Straße stieß ich auf ein junges Paar, das ich kannte. Ungeschickt versuchte ich, meine blutverschmierten Hände zu verbergen. Sie bedachten mich mit einem besorgten Blick, blieben aber nicht stehen, sondern zeigten jene Gleichgültigkeit, die in den westlichen Hauptstädten an der Tagesordnung ist. Als ob diese vertrauten Gesichter mich aus meiner Fassungslosigkeit gerissen hätten, wurde ich mir sogleich meines Wahnsinns bewusst. Was tat ich hier? Ich hätte zur Polizei gehen oder vor Ort bei den Hilfskräften bleiben und berichten können, was ich gesehen hatte. Ich hätte zumindest das nächstgelegene Krankenhaus aufsuchen können, um mich behandeln zu lassen. Aber nein! Ich spazierte allein und verletzt die Rue Miromesnil hinunter wie ein kopfloser Zombie.
    Ich überlegte, ob ich zum Ort des Attentats zurückkehren sollte, zu den anderen Opfern, das offizielle Protokoll befolgen sollte. Aber ich hatte viel zu viel Angst, musste mich beruhigen, mich fangen, wieder Boden unter den Füßen bekommen. Es gab nicht viele Möglichkeiten: Ich musste in das beruhigende Asyl unserer alten Wohnung zurückkehren, in die Nähe der unauffälligen Stille des Parc Monceau. Dort zumindest wusste ich, wer ich war und wo ich war. Und keine Stimme dröhnte in meinem Kopf.
    Also ging ich bis zu unserem Wohnhaus, stieg langsam die kleine Treppe hinauf und betrat todmüde unser großes weißes Wohnzimmer.
    Alles war weiß bei uns, die Wände, die Möbel, der Boden. Auf Anraten des Psychiaters. Um meine Sinne nicht zu reizen.
    Ich warf die Schlüssel auf den niedrigen Tisch. Ich stöhnte, dann blieb ich einen Moment lang stehen, wie erstarrt. Ich zündete mir eine Zigarette an. Niemand war zu Hause. Meine Eltern verbrachten den August an der Côte d'Azur wie jedes Jahr.
    Allein. Ich war also mit meinem Alptraum allein, allein mit mir selbst, mit meinem Verständnis, dem ich jedoch nicht ganz vertrauen kann, was mir durchaus bewusst ist. Bei mir haben sich Einsamkeit und Vernunft noch nie gut vertragen.
    Nach ein paar Minuten, ich weiß nicht mehr genau, wie viele es waren, tat ich ein paar zögerliche Schritte und ließ mich auf die Couch fallen. Mein Körper war so schwer wie ein Sandsack. Automatisch griff ich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, als ob ich prüfen wollte, ob das Ganze tatsächlich auch so geschehen war. Als ob die Tatsache,

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