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Das Kopernikus-Syndrom

Das Kopernikus-Syndrom

Titel: Das Kopernikus-Syndrom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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auch an der Zeit, dass die Natur zu etwas anderem übergeht.
07.
    Es musste 3 oder 4 Uhr morgens gewesen sein, als mein Hunger mächtiger wurde als die Anziehungskraft des Fernsehers. Ich erhob mich, schweißgebadet, schlurfte in die Küche und öffnete den Kühlschrank. Ich blieb einen Moment stehen, genoss die kühle Luft aus dem Inneren des Kühlschranks, nahm ein paar Reste vom Vortag heraus und kehrte zu meinem Sofa zurück, ohne mir das Essen aufzuwärmen.
    Während ich kaute, rauschten auf dem Bildschirm die Fotos der neuen Opfer vorbei, darunter ihre Namen. Die Fernsehnachrichten mutierten zu einer riesigen Todesanzeigenrubrik, und ich starrte gebannt auf dieses morbide Schauspiel.
    Doch plötzlich kam mir eine Erkenntnis.
    Während ich den leeren Teller beiseitestellte, ließ die Wahrheit, die mir entgangen war, das Blut in den Adern gefrieren. Ich hatte das Gefühl, die düstere Ansammlung dieser Bilder habe mich schließlich in die Wirklichkeit zurückgeholt. In eine bestimmte Wirklichkeit. Ich hatte den Eindruck, endlich zu erwachen, die Augen zu öffnen: Mit einem Mal erinnerte ich mich, wie ich dieses Attentat überlebt hatte. Und warum. Und ich erkannte, wie absurd meine Anwesenheit war, hier, allein auf dem Sofa, die Hände noch blutbefleckt. Unwirklich.
    Ich merkte einfach, dass etwas nicht stimmte. Irgendetwas Unwahrscheinliches.
08.
    Die einzige Information, die den Fernsehzuschauer nach einem Attentat zu interessieren scheint, ist die Bilanz der Opfer. Die genaue Zahl der Toten. In den Tagen nach dem Drama steigt die offizielle Zahl der Toten, wie bei einer großen makabren Auktion, und man könnte meinen, die Menschen warteten nur darauf. Und dass sie enttäuscht sind, wenn es aufhört.
    Ich sage ›die Menschen‹, aber man muss ehrlich sein: Ich bin auch nicht frei von dieser ungesunden Obsession. Ich bin vielleicht verrückt, mag sein, aber ich bin wie alle.
    Ich kann es nicht erklären, aber ich empfinde ebenfalls diese morbide Faszination für die Zahl der Toten nach Anschlägen oder Naturkatastrophen. Deshalb kann ich mich nicht vom Fernseher losreißen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich Zeuge von etwas Ungewöhnlichem war. Es ist keineswegs so, dass man Freude am Tod der anderen hat, aber je schlimmer die Bilanz, desto ungewöhnlicher ist das Ganze. Je schwerwiegender das Drama ist, dem wir entgangen sind, desto lebendiger fühlen wir uns, meine ich zumindest. Man fühlt sich nämlich nie lebendiger, als wenn man den Hauch des Todes spürt. Oder man erlebt ihn durch einen beauftragten Stellvertreter.
    Das ist vielleicht nur eine Auswirkung meiner eschatologischen Angst. Der Tod jagt mir so viel Angst ein, dass ich ihn unwillkürlich erforschen muss.
09.
    Moleskin-Notizbuch,
Anmerkung Nr. 101: der Tod
    Den Menschen unterscheidet nicht nur seine deutliche Sprache vom Tier, sondern auch seine Fähigkeit, über sich zu reflektieren und folglich sich seiner Endlichkeit bewusst zu sein. Etwas steht außer Frage: Wir sind sterbliche Wesen. Sie, ich. Wir sterben einen langsamen Tod. In meinem Inneren herrscht ein riesiger Widerspruch. Eigentlich gibt es viele, aber dieser ist bestimmt der erstaunlichste.
    Ich bin schizophren. Kurzum, ich bin ein Behinderter der Seele, mein Leben ist ein einziger großer Scherz, ein kleines beliebiges Dingsda. Und doch jagt mir nichts mehr Angst ein als der Tod. Das ist das Paradoxe. Wie kann man Angst davor haben, dass ein Leben erlischt, das so wenig reizvoll erscheint? Ich weiß es nicht. Aber es ist so. Ich begnüge mich damit, die Angst zu haben, die mir die Kehle zuschnürt, mich innerlich aufwühlt.
    Anscheinend ist bei Schizophrenen die Gefahr eines Selbstmords erhöht. Die Natur macht keine halben Sachen. Über die Hälfte der Patienten unternehmen im Laufe ihres Lebens mindestens einen Selbstmordversuch, und über zehn Prozent schaffen es tatsächlich, ihr Leben zu beenden. Das eigene Leben beenden. Ist mir diese Idee noch nie durch den Kopf gegangen?
    Nachts überfallen mich meine Todesängste. Sie sind grauenhaft, und ich weine wie ein kleiner Junge. Ich richte mich im Bett auf, mein Herz schlägt zum Zerspringen, von überallher kommen Hände auf mich zu, und alle Stimmen in mir vereinigen sich, um nur noch einen einzigen Satz hervorzustoßen. Es ist immer der gleiche Satz. Ich will nicht sterben. Ich schließe die Augen, alle meine Augen. Die Augen meines Körpers und die Augen meiner Seele. Und ich kämpfe darum, nicht mehr daran denken zu

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