Das Kopernikus-Syndrom
mindestens zwei Stunden Widerstand gegen Feuer leisten können. Aber man kann in der Praxis unmöglich die wirklichen Schäden vorhersehen, die durch drei einzelne Bomben verursacht werden. In diesem speziellen Fall funktionierte außerdem in den getroffenen Bereichen die Sprinkleranlage nicht, die bei einem Brand eigentlich automatisch einsetzt, und das verschlechterte die Lage deutlich.
Ein paar Jahre zuvor, beim Attentat vom 11. September 2001, vergingen ungefähr dreißig Minuten, bis der erste Turm des World Trade Center einstürzte. An jenem Tag erfuhr der SEAM-Turm in viel kürzerer Zeit ein ähnliches Schicksal, das ebenso tragisch wie tödlich war.
Um 8.16 Uhr, nur acht Minuten nach den Explosionen, fiel das Gebäude mitten auf der Place de la Coupole unter grauenhaftem Lärm in sich zusammen.
Acht Minuten. Nicht einmal ein Drittel der Zeit, die für die Evakuierung des Turms erforderlich gewesen wäre. Trotz der vielen regelmäßig durchgeführten Übungen, trotz aller im Voraus berechneten Abläufe für die gleichzeitige Evakuierung mehrerer Stockwerke über die Treppen ins Untergeschoss, war das Gebäude viel zu stark beschädigt, als dass die ausgeklügelten Sicherheitsvorkehrungen wirklich greifen konnten. Da eine Bombe im Erdgeschoss explodierte, konnten die Menschen das Gebäude nicht durch die üblichen Ausgänge verlassen oder über das Untergeschoss fliehen. In acht Minuten bestand nicht die geringste Chance auf eine Rettung.
Zahlreiche Träger waren durch die Explosionen zerstört worden, so dass die Last auf den übrigen Pfeilern ungeheuer zunahm. Schnell war das Metall geschmolzen. Die Pfeiler in den drei betroffenen Etagen gaben nach. Der obere Teil des Gebäudes verlor jeglichen Halt und brach unter seinem eigenen Gewicht zusammen, was nach und nach den Einsturz des gesamten Turms nach sich zog. Die Stockwerke fielen eines nach dem anderen ein, angefangen beim brennenden Dachgeschoss, und eine riesige graue Staubwolke entstand.
Die entsetzten Zuschauer in der Ferne begriffen jetzt, dass die Katastrophe von unabsehbar zerstörerischem Ausmaß sein würde. Ein oder zwei Sekunden nach Beginn des Einsturzes entwickelte sich ein bedrohlicher Lärm, langsam anschwellend, wie das Grollen eines Tornados, den nichts mehr aufhalten kann. Eine riesige, ohrenbetäubende Schallwelle, ein mächtiger Widerhall um den Ort der Katastrophe. Genauso heftig wie plötzlich. Und das Gesicht von La Défense veränderte sich für immer.
Im Umkreis der Explosion wurden das Nigel-Gebäude, der DC4-Turm, die Kirche und das Polizeikommissariat durch das Gebäude, das über ihnen zusammenstürzte, zerstört. Trümmer begruben die Avenue de la Division Leclerc weiter unten mitsamt der Schlange von Autos. In wenigen alptraumhaften Augenblicken versank die Esplanade von La Défense in apokalyptischer Dunkelheit. Lange schien die Grande Arche in einem Ozean aus schwarzem Staub dahinzugleiten.
Wenige Minuten nach den Explosionen löste der Präfekt Plan Rot aus. Schnell wurde ein Verantwortlicher für den Notdienst ernannt, der die beiden Kommandotruppen leiten sollte: die Truppe Brandrettung und die Truppe ärztliche Versorgung. Ihnen stand ein großes Hilfsnetz zur Verfügung: Feuerwehr, schnelle medizinische Hilfe, Polizei, Zivilschutz und verschiedene private Ärzteorganisationen, die den notärztlichen Einsatz und die psychologische Betreuung der Opfer organisierten.
Trotz des schnellen Eingreifens aller Notdienste war die Bilanz des Attentats erschreckend, so grauenhaft, wie es Frankreich noch nicht erlebt hatte. Beim Einsturz wurden in einem Umkreis von mehreren hundert Metern Menschen außerhalb des Turms von den Trümmern erstickt oder erschlagen. Die Angestellten, die im Turm die drei Bombenexplosionen überlebt hatten, kamen beim Einsturz um.
Von den 2.635 Personen, die am Morgen den SEAM-Turm betreten hatten, überlebte nur einer, ein Einziger. Ich.
Erster Teil
Das Murmeln der Schatten
»Du träumst; oft ertönt aus der Tiefe düsterer Verliese,
wie aus dem Schlund der Hölle,
das Murmeln der Schatten.«
Victor Hugo,
Die Züchtigungen, 7. Buch
03.
Ich heiße Vigo Ravel, bin sechsunddreißig Jahre alt und schizophren. Zumindest habe ich das immer geglaubt.
Mit zwanzig – wenn ich mich recht erinnere, denn meine Erinnerungen reichen nicht weit, und ich muss mich auf das verlassen, was meine Eltern mir gesagt haben – hat man psychische Probleme bei mir diagnostiziert, die symptomatisch für
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